Alle Ampeln stehen auf Gelb

Arbeit am Unheimlichen: Dem New Yorker Künstler Gregory Crewdson widmet der Kunstverein Hannover eine große Retrospektive. Crewdson formuliert in seinen Fotoserien seine persönlichen Visionen so, dass der Betrachter meint, sie unbewusst selbst ersonnen oder schon im Kino gesehen zu haben

von GLORIA ZEIN

1919 veröffentlichte Sigmund Freud eine Studie über das Unheimliche. Bei der Analyse stieß er auf eine Definition Schellings, unheimlich sei alles, was zwar im Verborgenen bleiben sollte, aber dennoch hervorgetreten sei. Freud kam zu dem Schluss: heimlich sei ein Wort, „das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“.

Ausgehend von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ entwickelt er verschiedene Erklärungen: Unheimliches sei, was an den infantilen Wiederholungszwang appelliere, Animismus (dem eigenen Seelenleben wird eine Macht über die Realität zugeschrieben) sowie die Angst vor dem Verdrängten. Das Unheimliche sei also nichts Fremdes oder Neues, sondern etwas dem Seelenleben Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden sei. Auch den Grusel vor Wahnsinn und Krankheit erklärt Freud über Ich-Bezüge: Der Laie sehe hier Äußerungen von Kräften, die er im Nebenmenschen nicht vermutet habe, in seiner eigenen Persönlichkeit aber ahne.

Mit diesen Thesen Freuds beschäftigt sich der 1962 in New York als Sohn eines Psychoanalytikers geborene Künstler Gregory Crewdson. In akribisch inszenierten Fotografien schafft Crewdson Situationen, die trotz ihrer ambivalenten Absurdität vertraut wirken. Hier wird eine innere Realität festgehalten, die zugleich ein kollektives Unbewusstes abzubilden scheint, wie seine umfangreiche Retrospektive im Kunstverein Hannover nun zeigt. Eine kleinformatige Schwarz-Weiß-Fotografie der Serie „Hover“ (1996–1997) zeigt aus Vogelperspektive eine Kleinstadtsiedlung. Rechts unten blickt ein Officer auf einen merkwürdigen Kreis im Rasen. Der Nachbargarten wird von Feuerwehrleuten inspiziert. Als hätte man zu spät aus dem Fenster geschaut und das Ereignis verpasst, bleibt die dargestellte Situation für den Bildbetrachter unerklärlich. Handelt es sich um einen Scherz? Einen Ufo- Landeplatz? Land Art? Und warum hält der Officer eine Axt in der Hand?

Mit Lust an verwirrenden Details steigert Crewdson die Rätselhaftigkeit seiner Geschichten. Das fordert Zeit für die Betrachtung seiner Tableaus. In einem Interview von Antonio López hat der Künstler einmal gesagt, er sei daran interessiert, die Betrachter durch einfache Zugänge in seine Bilder zu ziehen. „However, once they’re in, then I like to sort of fuck with that one way or another“, fügte er hinzu. Crewdson interessiert sich für Ruhepausen, den Moment des Innehaltens. In Straßenszenen stehen alle Ampeln auf Gelb; Autos parken auf Kreuzungen. Bewegungslose Protagonisten wirken konzentriert oder entrückt (wie der Schauspieler William Macy zwischen Rasenbergen in einer nächtlichen Garage). Manche scheinen still verzweifelt, andere im Einklang mit der Situation – wie jene Frau, die in einem unter Wasser stehenden Wohnzimmer auf dem Rücken liegt. Wohlig und ruhig ist ihr Blick in die Ferne gerichtet. Eine flach stehende „Sonne“ scheint durch die Fenster, das Licht zweier Stehlampen spiegelt sich im Wasser. Zeit scheint hier aufgehört zu haben.

Die Aufnahme entstammt der Serie „Twilight“ (1998–2002), bei der Crewdson seine Zusammenarbeit mit dem Kameramann Richard Sands begann. Einige dieser Bilder wurden vollständig im Studio gebaut. Doch auch in den Straßenszenen trägt aufwändig gesetztes Licht zur Modulierung von Situation und Stimmung bei, zur Inszenierung von Künstlichkeit. Lichtführung und die Kommunikation von Innen- und Außenraum hatten Crewdson bereits in seiner noch vorsichtig inszenierten Abschlussarbeit an der Yale-Universität beschäftigt. Sie wird unter dem Sammelbegriff „Frühe Arbeiten 1986–1988“ in Hannover präsentiert. Für die beiden jüngsten Serien konnte der Künstler ein professionelles Team vom Umfang einer Filmcrew beschäftigen. Um klaustrophobische Tiefenschärfen zu erzeugen, wurde „Beneath the Roses“ (2003–2005) auch digital verfeinert.

Die Vorliebe für komplexe Inszenierungen, das Verschieben von Bildelementen und Realitätsfragmenten entwickelte Crewdson schon in den 90ern. Für die Serie „Natural Wonder“ hat er im Atelier (damals noch eigenhändig) aufwändige Schaukästen gebaut und fotografiert. Vor Miniaturmodellen von Kleinstadtsiedlungen schweben hier Schmetterlingsgruppen; Dornen entwachsen einem im Gestrüpp versteckten Männerbein, und Vögel hocken zwischen Dosen in fauligem Wasser.

Unverblümt kommunizieren Crewdsons Arbeiten ihre Referenzen aus der jüngeren Kunst- und Kulturgeschichte: Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Cindy Sherman, Jeff Wall, Edward Hopper, David Lynch oder Steven Spielberg sind gesehen und vielfach erläutert worden.

Dem Künstler gelingt es durch diese Bezüge, besonders zum Kino, persönliche Visionen so zu formulieren, dass der Betrachter meint, sie unbewusst bereits selbst ersonnen zu haben. Der Erinnerung an einen Traum entsprechend entfaltet jedes Motiv eine Geschichte, die – streng genommen – nur Situation ist. In ihrer Detailfülle und Komplexität öffnet sie jedoch psychologische Assoziationsfelder. Wie kurze REM-Phasen reihen sich die Einzelbilder seiner Serien aneinander – argumentativ bezugslos doch derselben Problematik entsprungen: Um Vereinzelung gehe es in Crewdsons Arbeit, um Entfremdung, Abwesenheit und Scham, schreibt Katy Siegel im Katalog. „Die dunkle Seite des amerikanischen Traums“ tituliert Stephan Berg folgerichtig seinen Beitrag. Trotz der Benennung bleibt beim Betrachter die Verwirrung, ob er Crewdsons Szenen aus der eigenen Introspektion oder aus dem Kino zu kennen glaubt.

Bis 30. Oktober 2005, Katalog 35 €