Sind die Räuber eine Bedrohung? Vielleicht. Aber Wespen sind gefährlicher
: Der Wer-wie-was-Wolf

WIR RETTEN DIE WELT

Vonbernhardpötter

Die Killer leben unter uns. Um genau zu sein: zwei Stockwerke tiefer. Als ich letztens an der Tür unseres netten Nachbarn vorüberging, zuckte ich beim Blick aufs Klingelschild unwillkürlich zusammen: Hilfe! Hier lebt ein ganzes Rudel mörderischer Raubtiere. Eine Wolfgang!

Canis lupus, der Grauhaarige mit Migrationshintergrund, hat derzeit einen schlechten Leumund. Erst haben wir uns alle gefreut, dass da aus dem Osten ein Vertriebener wieder zurückkommt. Inzwischen hat unsere Willkommenskultur etwas gelitten. Denn das Tier ist tatsächlich ein Raubtier. Der Wolf, über den wir nur im Singular reden (es klingt wie: „der Russe“) frisst Schafe und Rinder. Und wir hatten gedacht, er würde sich mit Großmüttern aus dem Märchenbuch begnügen. Nun fürchten Eltern um ihre Kinder, Biobauern um ihre freilebenden Tiere. In den Medien, auch in der taz, wird debattiert, ob die großen Räuber hier eigentlich her gehören. Oder ob sie zu viel Leidkultur mit sich bringen.

Wenn Wölfe Tiere reißen, werden die Bauern entschädigt. Wenn sie die Freilandhaltung von Kühen gefährden, die wir alle begrüßen, sollte es möglich sein, die Weiden zu sichern. Wenn das mehr kostet, sollten es die Preise für Milch und Fleisch widerspiegeln. Biologische Landwirtschaft könnte heißen, dass es auch jenseits des Ökobauernhofs eine größere Artenvielfalt gibt.

Aber es gibt tatsächlich noch ein gewichtiges Argument gegen den Räuber: Wölfe können im Ausnahmefall auch Menschen angreifen. Seit 1950 sind in Europa neun Menschen von Wölfen gerissen worden. Die Tiere waren entweder tollwutkrank oder hatten über Fütterung ihre Scheu verloren. 2010 töteten Wölfe in Alaska eine Joggerin. Schaut man in die Regionalpresse, redet man mit Menschen auf dem Land oder mit Bauern, bekommt man den Eindruck: Der Wolf ist eine Gefahr für Leib und Leben.

Stimmt das? Ein Anruf beim Statistischen Bundesamt, das aus irgendeinem Grund „destatis“ genannt werden will. Eine Fundgrube an Tabellen und Zahlen. Hier erfährt man: 2015 gab es in Deutschland 68 tote Menschen durch Kontakte mit Tieren. Davon 13 durch Verkehrsunfälle mit Wild und 4 durch Kfz-Unfälle mit anderen Tieren. 18 Menschen starben durch Kontakt mit giftigen Tieren, vor allem Hornissen, Wespen, Bienen (das heißt, die Menschen erlitten einen allergischen Schock, es waren keine Killerbienen). 3 starben durch das Gift von Anthropoden (meist Spinnen), 1 durch eine giftige Pflanze. Nichtgiftige Insekten brachten immerhin 9 Menschen zur Strecke (man hätte hier gern Einzelheiten, die gibt es aber nicht.) Auf das Konto anderer Säugetiere gehen 18 Todesopfer. Dazu zählen wohl auch Unfälle im Stall mit Pferden und Kühen. Anders als in sonstigen Jahren starb 2015 niemand durch Rattenbiss, Kontakte mit Meerestieren oder Krokodilen/Alligatoren. Zum Schluss werden wir fündig: 5 Tote durch Bisse und Stöße von Wölfen im weiteren Sinne. Also Hunden.

Zahlen besiegen keine Ängste. Und ich kann gut reden. Bei uns in Berlin-Friedenau ist das wildeste Tier der Fuchs an den Mülltonnen. Wären meine Kinder noch klein, würde ich sie vielleicht auch nicht allein mit Kuchen und Wein zur Großmutter durch einen Wald schicken, in dem es Wölfe gibt. Aber vielleicht sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass für uns und unsere Kinder Nachbars psychotischer Wauwau und die Autofahrt durch den Wald deutlich gefährlicher sind als die At­tacke eines heimlichen Waldläufers. Von der Gefahr, dass wir Menschen den anderen Tieren ein Wolf sind, mal ganz zu schweigen.

Und vielleicht sollten wir uns mehr vor dem Monster fürchten, das jedes Jahr statistisch gesehen 10.000 Deutsche frühzeitig ins Grab bringt: die Luftverschmutzung in den Städten, vor allem durch Feinstaub und Stickoxide, vor allem durch den großen, bösen Diesel. Die ist anders als die Raubtiere wirklich unsichtbar, schlägt aber genauso unbarmherzig zu. Aber auch an diesem echten Serienkiller ist Canis lupus nicht unschuldig. Denn die Gefahr kommt zum großen Teil, Sie ahnen es: aus Wolfsburg.