Comeback der Liebe

Spitze Nuri Şahin – unter Thomas Tuchel abserviert – dirigiert und schießt Borussia Dortmund an die Tabellenspitze. Die Fans weinen schier, der neue Trainer, Peter Bosz, ist indes noch nicht ganz zufrieden

Gut aufgelegt: Nuri Şahin darf bei Borussia wieder zeigen, was er kann Foto: ap

Aus Dortmund Daniel Theweleit

Fußball in Dortmund ist immer intensiv, aber die Dosis an Glückshormonen, die in jener zuckersüßen 57. Minute im Westfalenstadion ausgeschüttet wurde, wird selbst gestählten Südtribünen-Veteranen noch eine Weile in Erinnerung bleiben. Der allgegenwärtige Nuri Şahin, der zuvor schon ­Pierre-Emerick Aubameyangs 1:0 vorbereitet hatte, traf mit einem großartigen Fernschuss zum 2:0 für den BVB, räumte letzte Zweifel am Sieg gegen Hertha BSC aus, beförderte den Klub an die Tabellenspitze und vor allem: Er erfüllte die schwarz-gelbe Gemeinde nach all dem Streit, dem Transferärger und den Zukunftssorgen mal wieder mit einem Gefühl, das zuletzt irgendwie verschüttet war. Mit echter Liebe.

Denn wie kein anderer aktueller Spieler verkörpert Şahin den längst zum Mythos verklärten Jürgen-Klopp-BVB, den sich viele am Ende der konflikt­reichen Tuchel-Jahre zurücksehnten. Auch Şahin berichtete von einem „tollen Gefühl“, das ihn nach diesem Treffer erfülle und versicherte nach seinem überragenden Auftritt selbstlos: „Ich will nicht der Beste oder Wichtigste sein, aber ich will Teil der BVB-Familie sein.“ Şahin hat eine schwere Zeit hinter sich. Während der beiden Jahre unter Thomas Tuchel fand er kaum Beachtung. „Ich stand im Sommer an einem Punkt, der für mich richtungsweisend war“, erzählte er am Samstag. Erst nach einem Gespräch mit der Klubführung und dem neuen Trainer Peter Bosz habe er sich entscheiden, es noch einmal zu versuchen beim BVB. Und dieser Entschluss entpuppt sich mehr und mehr als Win-win-Situation.

Şahin forderte ständig den Ball, machte lauter kluge Dinge und Bosz kritisierte die Mitspieler, dass sie den 28-Jährigen nicht noch öfter in Szene gesetzt hatten: „Nuri war sehr häufig frei, aber es hat zu lange gedauert, bis der Ball bei ihm war. Wenn wir Nuri im Mittelfeld an den Ball bekommen haben, dann wurde es gefährlich.“ Überhaupt betrachtete Bosz die zweifellos starke Leistung seines Teams bemerkenswert kritisch. Mit dem Ergebnis sei er glücklich, sagte der Holländer, aber mit dem Spiel „nicht ganz“. Gegen tief verteidigende Gegner wie die insgesamt schwachen Berliner müsse man „den Ball in hohem Tempo laufen lassen und schnell die Seite wechseln“, monierte Bosz. Eine Kritik, die aufmerksame Beobachter automatisch zurück in eine überwunden geglaubte Vergangenheit führt.

In der Spätphase des Jürgen Klopp quälte die Mannschaft sich mit exakt dem selben Problem herum, Tuchel fand überzeugende Lösungen mit Julian Weigl als Schlüsselfigur der Spielbeschleunigung. Der im Moment verletzte Stratege hält die Abstände zwischen den Anspielstationen kurz, er spielt zwar selten in die Tiefe, aber er verlagert das Spiel mit präzisen harten Pässen von der einen auf die andere Seite und zurück.

Şahin hat andere Stärken, sucht schneller nach Optionen den Ball ins Offensivdrittel zu befördern. Zudem ist Şahin ein versierter Gegenpressing-Spezialist und beherrscht damit eine zentrale Anforderung des Bosz-Fußballs nahezu perfekt. „Man sieht auf dem Platz, dass ich mein Niveau wieder erreicht habe“, sagte Şahin.

In jedem Fall wird die Frage, ob Şahin oder Weigl mittelfristig die zentrale Rolle im Bosz-Team spielen, auch darüber entscheiden, wie viel Klopp und wie viel Tuchel im künftigen BVB enthalten sein wird. Im Moment passt Şahin noch ganz wunderbar zum Trainerwechsel, auch weil seine gute Form den Eindruck nährt, dass der Sturz in die Bedeutungslosigkeit unter Tuchel ein Trainerfehler war. In der Länderspielpause soll Weigl nach seinem Knöchelbruch ins Mannschaftstraining zurückkehren, und für beide Zentrumsspieler wird kaum Platz sein in Boszs 4-3-3-System. „Ich habe in den Sitzungen schon gesehen, dass der zentrale Mittelfeldspieler jetzt etwas weiter vorne ist“, hat Weigl im Trainingslager gesagt. Offen ist, wie er mit diesen veränderten Anforderungen klarkommt.

Dass mit der Renaissance von Nuri Şahin das überwunden geglaubte Problem der brotlosen Ballbesitzüberlegenheit zurück zu sein scheint, ist jedenfalls die Schattenseite des großartigen Dortmunder Saisonstarts.