Die Nichtwähler vom Ostufer

Die Bienertstraße ist keine Hochburg, hier wird nicht extrem gewählt. Die NPD hatte nie eine Chance

AUS DRESDEN HEIKE HAARHOFF

Eine Wahlparty ohne Wahl, man muss sich das mal vorstellen, sagt Rita Schmale. Es ist kurz vor elf gestern morgen, sie verlässt ihr Haus. Die Freunde haben darauf bestanden. Der Brunch am Wahlsonntag findet statt wie geplant. Auch danach wird wie geplant in geselliger Runde weiter dem Ausgang der Bundestagswahl entgegengefiebert. Gewählt aber hat – wider den Plan – keiner der Freunde, den ganzen gestrigen Tag lang nicht, es war ihnen verboten. „In die ehemalige DDR musste ich ziehen, um so was zu erleben“, sagt Rita Schmale, die in den 90er-Jahren aus beruflichen Gründen mit ihrer Familie von Nordrhein-Westfalen nach Dresden kam.

Nein, das ist jetzt unfair, es ist nicht die Schuld der ehemaligen DDR, dass Rita Schmale, 40 Jahre, Angestellte, eine Bundestagswahl feiern soll, über die sie und 219.396 weitere Dresdner erst in zwei Wochen abstimmen dürfen, obwohl für den Rest der Republik seit gestern alles gelaufen ist. Es ist nicht die Schuld des Ostens, dass die Direktkandidatin der NPD im Dresdner Wahlkreis 160 kürzlich einen Gehirnschlag erlitt und deswegen eine Nachwahl angeordnet wurde. Dass ein Ersatzkandidat nominiert werden musste und nun die alten Wahlzettel geschreddert, neue gedruckt, die bereits ausgegebenen Briefwahlunterlagen zurückgeholt, vernichtet und durch aktualisierte ersetzt werden. Das alles, behauptet der Bundeswahlleiter, brauche Zeit, zwei Wochen mindestens.

„Die Kosten für diese Nachwahl werden natürlich auf den Steuerzahler abgewälzt!“ Rita Schmale redet sich in Rage. Neue Plakate, noch mehr Straßenstände, weitere Talkshows, „müsste man alles verbieten“, sie weiß doch, wie es läuft, am Ende ändert sich nichts. Und falls es knapp wird, falls es auf die Dresdner Stimmen wirklich ankommt, „dann werden sich die Kandidaten hier die Klinke in die Hand drücken“. Ihre Augen funkeln böse. „Eine Farce ist das.“

Rita Schmale hat Grund zu diesen Annahmen, und das liegt daran, dass sie wohnt, wo sie wohnt: an der Ecke Bienertstraße/Hofmühlenstraße in Dresden-Plauen, im letzten Haus vor der Wahlkreisgrenze, im letzten Nichtwählerhaus vor der Weißeritz. Dieser scheinbar arglose Fluss, Steine auf dem Grund, Enten am Ufer, eine schmale Fußgängerbrücke oben drüber, trennt den oberen, östlichen Teil der Bienertstraße, 426 Einwohner, Wahlkreis 160, vom unteren, westlichen Ende der Bienertstraße, 47 Einwohner, Wahlkreis 161.

Man darf die Weißeritz nicht unterschätzen. Vor drei Jahren, beim Jahrhunderthochwasser, schwoll sie zu einem mehr als zwei Meter hohen Ungeheuer an, bescherte den Schmales einen Totalschaden und dem Kanzler Schröder den Wahlsieg. An diesem Wahlsonntag bestimmt die Weißeritz wieder Schicksale. Sie macht die Menschen aus den sanierten Altbauten vom westlichen Teil der Bienertstraße zu Wählern und die Nachbarn aus den schmucken Gründerzeit-Gebäuden vom östlichen Straßenende zu Nichtwählern.

Die Nachbarn vom westlichen Flussufer schauen argwöhnisch herüber. Charlotte Löwe beispielsweise, rüstige 83 Jahre, weißes, kurz geschnittenes Haar, Brille, gibt sich keine Mühe, ihre Missbilligung zu verbergen. Sie darf ganz normal wählen gehen, sicher, aber ist das wirklich ein Vorteil? „Wieso haben die anderen zwei Wochen länger Zeit als ich, sich ihre Meinung zu bilden“, brummt sie, „was ist daran gerecht?“ Taktieren werden ihre Nachbarn, vermutet sie, das Zünglein an der Waage spielen, ihren Wissensvorsprung nutzen, einzig auf ihren Vorteil bedacht, und sich nicht einmal dafür schämen. So als sei diese Wahl ein Lottospiel mit Sonderregeln, die Nachbarn von jenseits des Flusses kennen schon zwei Gewinnzahlen, Charlotte Löwe nicht.

„Ich kenne die Menschen“, seufzt sie. Seit 53 Jahren wohnt sie an der Weißeritz, ihr Mann baute hier nach dem Krieg einen kleinen Stahlbaubetrieb auf. „Der Firma ging es gut.“ Bis zur Enteignung 1972. Keiner habe protestiert, sagt Charlotte Löwe. Ihrem Mann aber habe es das Rückgrat gebrochen. Alle schwiegen und dachten nur an sich selbst, und bei dieser Wahl, fürchtet sie, könnte sich die Geschichte wiederholen, die Leute von der anderen Seite der Bienertstraße werden schweigend zusehen, wie die gesamte Republik wählt, und dann dieses Ergebnis zu ihren Gunsten ummünzen. Möglicherweise, schimpft die alte Frau, werden sie Angela Merkel am Ende sogar den Wahlsieg verderben, den sie der CDU-Kanzlerkandidatin so sehr wünscht. „Redlich“, sagt Charlotte Löwe, „ist das nicht.“

Aber möglich. Die Bienertstraße, benannt nach dem Dresdner Mühlunternehmer Gottlieb Traulob Bienert (1813–1894), der früh erkannte, dass man seine Untergebenen bei Laune hält, wenn man sie entlastet, und deswegen einen Kindergarten stiftete, ist weder eine SPD- noch eine CDU-Hochburg. Die Menschen in den drei- und vierstöckigen sanierten Altbauten der Bienertstraße, zehn Straßenbahnminuten vom Dresdner Hauptbahnhof entfernt und fußläufig zur Technischen Universität gelegen, gehören zu dem, was man in Deutschland gemeinhin als Mittelschicht beschreibt. Sie neigen in ihrem Wahlverhalten nicht zu extremen Entscheidungen. Bei der letzten Bundestagswahl vor drei Jahren stimmten die Bürger im unteren Teil, die auch an diesem Sonntag zur Wahl aufgerufen sind, mit 36 Prozent für die SPD, 27 Prozent gingen an die CDU, 16,4 an die PDS, 9,6 an die Grünen und 7 an die FDP. Im oberen Straßenabschnitt, der in diesem Jahr erst in zwei Wochen an die Urnen geht, war das Wahlverhalten 2002 ähnlich ausgewogen: 33 Prozent für die SPD, 30 für die CDU, 14 für die PDS, 11 für die Grünen und 9 für die FDP. Nur die rechtsextreme NPD, die hatte in der Bienertstraße nie eine Chance.

„Und deswegen“, sagt der 33-jährige Carsten Kahlert, ein selbstständiger IT-Berater aus der Nummer 6 am unteren Ende der Bienertstraße, der trotz des Sonntags gerade auf dem Sprung zu einem Kunden ist, „deswegen ist es unsäglich, dass die Wahl verschoben wird ausgerechnet wegen so einer Partei, die keiner hier will.“ Wenn es nach Kahlert ginge, dann wäre einfach der nächste NPD-Politiker von der Liste in die Position des Direktkandidaten aufgestiegen, ohne großes Aufheben, ohne leidige Diskussion über etwaige Vor- oder Nachteile einer nachträglichen Wahl zwischen Anwohnern. Aber es geht nicht nach Kahlert. Und so stellt er sich darauf ein, dass die Nachbarn östlich der Weißeritz selbstverständlich pokern werden, insbesondere dann, wenn es knapp wird für Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. „Die Menschen hier“, hat er beobachtet, „sind ja nicht doof, die denken nach.“ Eine große Koalition, darüber seien sich die meisten einig, sei keine gute Lösung, sondern politischer Stillstand. „Von daher“, sagt er und grinst, „kann man es den Leuten doch nicht verübeln, wenn sie ihre Stimme berechnend vergeben, auch wenn das vielleicht nicht ganz fair ist.“

Redlich, gerecht, fair. Die Worte sind oft zu hören auf der Bienertstraße an diesem Sonntag, vorwurfsvoll klingen sie vom unteren Straßenabschnitt herauf, staatstragend schallen sie vom oberen Straßenende zurück. Kein Nachwähler, der sich unterstellen lassen wollte, er werde bei der Stimmabgabe mit sich feilschen lassen. Bei einer Bundestagswahl! Sie kennen ihre Verantwortung! Sollen sie ruhig an der Tür klingeln in den kommenden zwei Wochen, die Westerwelles, Gysis oder Fischers, mit Rosen wedeln und um jede Stimme betteln – die Bienertsträßler werden sich nicht bestechen lassen. „Jeder weiß doch, was er wählt, das ist doch unabhängig vom Datum“, versichert Rainer Ruchatz, 66 Jahre, Industrieanwalt im Ruhestand, Bienertstraße 13. „Ich wähle natürlich, was ich auch unter normalen Umständen wählen würde, alles andere wäre doch nicht bodenständig“, ruft Herr Scheffer, 45 Jahre, Bienertstraße 36, über den Gartenzaun. „Ich mache Briefwahl, und der Rest geht Sie gar nichts an“, schnauzt Lutz Peschel, Beruf Detektiv, Bienertstraße 18, ins Telefon und legt auf.

Man kann die Straße auf- und ablaufen, auf den Grund der Weißeritz blicken und sich fragen, warum das so ist, warum so diskret, so ernsthaft, so pflichtbewusst, und dann trifft man, wenn man auf dem Rückweg schon fast das obere Ende der Bienertstraße erreicht hat, in der Nummer 44 zwischen Bierdeckeln, Flaschenetiketten und Kronkorken den 46-jährigen Baustoffprüfer Rolf Kluttig. Der wirkt mit seinem grauen Schnauzbart und der ruhigen Stimme genauso gemütlich wie sein Hobby, Kluttig ist der Vorstand des „Freundeskreises Brauereigeschichte Dresden/Ostsachsen e. V.“ Aber heute gibt es nur Mineralwasser, heute muss Kluttig sich konzentrieren, er stellt gerade das Material für eine „Hobbyschau“ zusammen, mit der sich der Verein auf der Dresdner Herbst-Messe Ende Oktober präsentieren will, und außerdem soll einen klaren Kopf haben, findet er, wer über Politik spricht.

Rolf Kluttig hat sich Gedanken gemacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass es tragisch ist, dass die Nachwahl ausgerechnet Dresden trifft. „Ausgerechnet einen Wahlkreis in Ostdeutschland!“ Rolf Kluttig klingt verzagt. Wo der Osten in diesem Wahlkampf schon so oft herhalten musste. Als proletarisierte, abgestumpfte Masse bar jedes Moral- und Rechtsempfindens, die einen neunfachen Kindermord ermöglicht habe. Als dumme Kälber, unfähig, die Reichweite ihrer Wahlentscheidungen zu erkennen. Und jetzt als Verdächtige, die angeblich eine Wahl manipulieren könnten.

„Lächerlich“, sagt Rolf Kluttig, „aber so denken die Menschen.“ Egal, wie die Wahl ausgehe, eines sei sicher: „Die Trottel, das sind in jedem Fall wir. Entweder man beschimpft uns als blöde Ossis, die die Wahl entschieden haben, oder man wirft uns vor, das Falsche gewählt zu haben.“