Schröder macht den Kanzler

Merkel und Schröder wollen beide ins Kanzleramt. Neueste Hochrechnungen am Abend: SPD könnte sogar vorn liegen

VON ULRIKE HERRMANN

Für die Union war diese Wahl ein Desaster. Zu Redaktionsschluss war noch nicht einmal mehr ausgeschlossen, dass die SPD die stärkste Fraktion wird. Überdeutlich war jedenfalls: Eine Unionskoalition mit der FDP – erklärtes Wahlziel – ist nicht möglich. Noch schlimmer: Zusammengerechnet hat der bürgerliche Block sogar weniger Prozentpunkte geholt als 2002. Denn die Union erreichte nicht einmal mehr 35 Prozent der Stimmen. Dabei war auch schon das Wahlergebnis 2002 mit 38,5 Prozent sehr enttäuschend ausgefallen.

Am schlimmsten jedoch für Kanzlerkandidatin Merkel: Diese Wahlniederlage wurde gegen einen Kanzler eingefahren, der sich schon aufgegeben hatte und über sein Programm nur noch in der Vergangenheitsform sprach. Jetzt ist Schröder zwar nicht unbedingt der nächste Kanzler, aber in jedem Fall der Kanzlermacher.

Da es für Schwarz-Gelb nicht reicht, ist klar: Die SPD wird in der nächsten Regierung sitzen. Damit hat sie die stärkste Verhandlungsmacht, auch wenn sie nicht stärkste Fraktion sein sollte. Dabei hat auch die SPD deutlich verloren. Sie erreichte in den Hochrechnungen nur noch knapp über 34 Prozent. 2002 hatten sie noch 38,5 Prozent bekommen und mit der Union gleichauf gelegen.

Seine neue Macht nutzte Schröder gestern sofort, um Kanzlerkandidatin Merkel zu entthronen. Umgehend erklärte er, dass er mit ihr eine große Koaltion für ausgeschlossen hält – und dass er gedenkt, selbst im Amt zu bleiben. Die eigenen Stimmverluste deutete Schröder in einen Sieg um: „Die Deutschen haben in der Kanzlerfrage eindeutig votiert. Ich werde Gespräche führen und die werden erfolgreich sein.“ An Merkel gerichtet sagte er: „Das verspreche ich Ihnen.“ Es sei „eindeutig, dass niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu stellen“.

Merkel wertete die Wahlergebnisse genau umgekehrt. Sie sprach von einem „eindeutigen Regierungsauftrag der Wähler“, den sie „annehmen“ werde. Sie beharrte darauf, dass sie „die stärkste Kraft im Bundestag“ anführe.

Falls die große Koalition sich in der Kanzlerfrage blockiert, kommen rechnerisch zwei andere Optionen in Frage. Da wäre zunächst eine Ampelkoalition von Rot-Grün mit den Liberalen, die beispiellos zugelegt haben. Sie gehören zu den großen Siegern dieser Wahl. Nach den Hochrechnungen lagen sie bei 10,0 Prozent. 2002 hatten sie sich mit 7,4 Prozent begnügen müssen. Für die FDP hat es sich damit ausgezahlt, die „Unabhängigkeitsstrategie“ aufzugeben und sich eindeutig zu einer Koalition mit der Union zu bekennen.

Parteichef Guido Westerwelle hat endlich ein Lebensziel erreicht: Er hat die Liberalen zur drittstärksten Partei gemacht und die Grünen überflügelt. Passend zu diesen gegenseitigen Antipathien hat Westerwelle gestern eine Ampelkoalition ausgeschlossen. „Die FDP ist angetreten, Rot-Grün abzulösen.“

Bleibt noch die Möglichkeit, dass Rot-Grün mit der Linkspartei zusammengeht. Sie ist neben der FDP der zweite große Wahlsieger. In den Hochrechnungen erhielt sie 8,5 Prozent. 2002 hatte die Vorgängerpartei PDS mit 4 Prozent noch den Einzug in den Bundestag verpasst und war dort nur mit den beiden Direktmandaten von Petra Pau und Gesine Lötzsch vertreten.

Allerdings sind auch hier die Antipathien deutlich ausgeprägt. Kaum waren die Wahllokale geschlossen, wurde SPD-Chef Franz Müntefering erneut kategorisch: Eine Zusammenarbeit mit den Linken komme nicht in Frage. Der linke Spitzenkandidat Oskar Lafontaine konterte umgehend, indem er ebenfalls eine Koalition ausschloss – unter anderem wegen Hartz IV.

Nur die Grünen scheinen noch zu hoffen, dass ihr Weg nicht direkt in die Opposition führt. Außenminister Joschka Fischer deutete gestern an, dass er sich eine weitere Regierungsbeteiligung vorstellen kann. Selbst eine „Jamaika-Koalition“ von Union, FDP und Grünen schloss er nicht ausdrücklich aus. Doch objektiv bleibt nur festzustellen, dass auch die Grünen ein bisschen Sympathie bei den Wählern einbüßen mussten. Sie erhielten in den Hochrechnungen 8,2 Prozent. 2002 hatten sie noch 8,6 Prozent erzielt.

Erwartungsgemäß spielten die rechtsextremen Parteien keine Rolle. Damit setzten sie einen Trend bei Bundestagswahlen fort. 2002 konnten die „Republikaner“ 0,6 Prozent und die NPD 0,4 Prozent verbuchen.

Die Wahlbeteiligung dürfte etwas niedriger als 2002 gelegen haben. Damals hatten 79,1 Prozent der Bundesbürger gewählt.

Der Wahlausgang ist eine Schlappe für die Meinungsforschungsinstitute. Selbst die letzten Umfragen hatten noch einen deutlichen Abstand zwischen der Union und der SPD vorausgesagt. Mit dem Erfolg der Liberalen hatte niemand gerechnet. Offensichtlich haben sich viele potenzielle Unionswähler in der Wahlkabine umentschieden – weg von Merkel, hin zu Westerwelle. Nicht wenige hofften, dass sie damit eine große Koalition verhindern können. Dieses Kalkül dürfte fehlschlagen.