: Eine Spur Post-Hippie-Szene
Wo Berlin tanzt 3 Im Sommer trifft sich die internationale Berliner Tanzszene auf der Ponderosa, im Dorf Stolzenhagen im Oderbruch: zur Erforschung von Körpertechniken und diskursiven Themen
von Astrid Kaminski
Vom Kuhstall ins mumok, so ungefähr lautete neulich ein Post des Bühnendesigners Michiel Keuper und des Choreografen Peter Pleyer anlässlich einer Aufführung der „Ponderosa-Trilogie“ im Wiener Museum moderner Kunst. Besser lässt sich die Geschichte von Ponderosa e. V., dem Landsitz der internationalen Berliner Tanzszene, dem die Trilogie gewidmet ist, kaum zusammenfassen.
Ponderosa, wo im Sommer mehrere Hundert Tänzer*innen und Bewegungsinteressierte arbeiten, entspannen, forschen, trainieren und performen, liegt auf halber Strecke zwischen Berlin und Stettin, im Bullerbü-verdächtigen Dörfchen Stolzenhagen. Eine Hügel- und Wasserlandschaft, die Wege gesäumt von Korkweiden, Pflaumen-, Mirabellen- und Apfelbäumen, die gepflegten Gärten bestückt von weißen Wunder-Hortensien und oftmals einem aufgebocktem Kajütboot, die traditionellen Häuser aus Natursteinen und Klinker.
Auf dem geraden Oderkanal, der das Dorf begrenzt und Vorbote der etwas weiter östlich zwischen Deutschland und Polen mäandernden Oder ist, schippern gemächlich ein paar Kohle- und Kiesfrachter vorbei. Ausgedehnte Spaziergänge, unter Umständen als Schweigemärsche, gehören hier zum Programm.
LPG und San Francisco
Angefangen haben die Tanzpioniere auf dem ehemaligen LPG-Gut 1998, lange vor dem Ausverkauf des Berliner Speckgürtels. Uli Kaiser, Mitbesetzer der Kastanienallee 77, dem fast schon ikonografischen Hausprojekt im Prenzlauer Berg, das in diesem Sommer sein 25-jähriges Jubiläum feierte, war auf den Geschmack von Baustellen gekommen. Ebenso seine Partnerin Stephanie Maher und mit ihr ein paar Freaks aus der Post-Hippie-Szene San Franciscos, heute längst gestandene Choreograf*innen.
San Francisco war für Community- und Kunst-Experimente zu teuer geworden, Berlin die Fortsetzung. Zunächst entstand in der Kastanienallee das bis heute vereinsbetriebene Tanzstudio K77. Neben der Kreuzberger Tanzfabrik ist es bekannt als erste Adresse für Kontakt-Improvisation – ohne diese postmoderne Bewegungstechnik wäre die Ästhetik des zeitgenössischen Tanzes nicht denkbar. Vom K77 ging es mit der Community-Sehnsucht, aber auch dem Bedürfnis, durch neue Techniken tiefere Lagen der Körper zu erforschen, weiter in die Provinz.
Studios und Gemüsegarten
Das Gut Stolzenhagen wurde zur Siedlergenossenschaft mit 40 Parteien umgewandelt, Ponderosa e. V. hält den größten Anteil. Ein Gästehaus und Tanzstudio im ehemaligen Kornspeicher, eine Gemeinschaftsküche, ein Bürotrakt im ehemaligen Kuhstall, das darüber liegende zweite Studio, ein großer Blumen- und Gemüsegarten – alles in Eigenleistung renoviert und angelegt – gehören dazu. Und Berliner Wochenend-Nachbarn, die sich über Rollkoffer und Eva-Kostüme wundern.
Bei den Dorfbewohner*innen sind die „Verrückten“ dagegen beliebt. Sie bringen etwas, was es sonst in dieser Gegend nicht gibt: Jobs. Fünf Ortsansässige sind fest angestellt, vier weitere arbeiten auf Honorarbasis. Zusätzlich können sich durch ein „Work-Exchange“-Programm mehrere Dutzend internationale Tänzer*innen, die sich Kurse in Berlin nicht leisten könnten, weiterbilden.
Als Uli Kaiser zusammen mit dem weiteren Gründungsmitglied Saliq Savage vor einem knappen Jahr zusätzlich ein ehemaliges Betonwerk im fünf Kilometer entfernt liegenden Stolpe übernahm, war die Vorfreude groß: Das „Betonnest“ könnte ein zweites Ponderosa werden. Vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Kaiser lässt sich mit dem Konzept für das Riesenareal Zeit. Universitäten und Urban-Planer schauen vorbei, während eine neue Generation internationaler Tänzer*innen erst einmal zum Selbstkostenpreis residiert.
Hexenforschung
Ponderosa und sein sommerliches TanzLandfestival haben sich indessen, unter der mehr und mehr auf Kollektive verteilten Leitung Stephanie Mahers, einerseits zu einem Community-Übprojekt, andererseits zum künstlerischen Themengeber entwickelt. Dabei scheinen sich Organisationsform und Ästhetik gegenseitig zu bedingen. Je mehr die Popularität der internationalen Berliner Tanzszene zunahm, je mehr die Situation für Künstler*innen in Berlin dem San Francisco der 1990er Jahre ähnelte, desto dringlicher wurde die Sehnsucht nach Orten und Arbeitsweisen, die auf Solidarität, sozialer und ökologischer Verantwortung gründen. Ponderosa wurde zum Ort für alles Queere, für alles, was mit Diversität, Utopien, Meditation, vegetarischer Küche, mit Heilen, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft zu tun hat.
Obwohl der Bezug zu Körper- und Tanztechniken die Basis bildete, flog der Vorwurf der Esoterik den Akteuren nicht nur einmal um die Ohren. Etwa vor fünf Jahren muss sich das Ruder dann gewendet haben. Die Ponderosa-Themen wanderten, Postkolonialismus- und Feminismus-Theorie, die spekulativen Methoden der Neuen-Materialismus-Philosophie und Strategien der Selbstermächtigung tauchten überall auf Festivals auf und galten plötzlich auch auf den Bühnen Deutschlands als chic. Dass eine Erfolgschoreografin wie Meg Stuart in Ponderosa mit New Yorker Hexen „Witchcraft“ zelebriert: Ruhrtriennalen-verdächtig! Peter Pleyers auf Rollschuhen vorgeführte Häkelgarderobe: museumsreif!
Dabei steht das Halbernsthafte Ponderosas weniger für Indifferentes, falschen Zauber oder Freizeitkultur. Es spiegelt vielmehr ein Bekenntnis des Nicht-Erreichten, Nicht-Wissens, des Zerrissenseins, des Hinterfragens, des Rückzugs, der Sehnsucht nach und der Distanz zu Gemeinschaft wider.
Ponderosa ist kein Lebensentwurf: Es ist ein Retreat, ein Forschungsprojekt und, auch wenn äußerlich inzwischen ein stylisches Öko-Paradies: eine Baustelle der Tanzszene.
Das Ponderosa TanzLandfestival läuft in diesem Jahr noch bis zum 19. November. Programm unter www.ponderosa-dance.de
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