: Eine Frage der Haltung
FESTIVAL Müder Retro-Auftakt oder, anders gesagt: viel Luft nach oben. Das diesjährige Sommerfestival auf Kampnagel widmet sich quer durch die Gattungen dem Thema „Mit Sicherheit unsicher“
von Jens Fischer und Robert Matthies
Sie recken und strecken sich, verdrehen den Oberkörper; schreiten durch den Raum, dann und wann ein Kopfstand, hier und da ein Hüpfer. Aber so richtig gelingen will es den acht Tänzer*innen in hautengen schwarz-weißen Ganzkörpertrikots offenbar nicht, die richtige Balance und eine Haltung zu finden, die sie tatsächlich halten können. Ob’s der Choreograf so gemeint hat? Auch das wohl eine Frage der (Zuschauer*innen-)Haltung. Wacklig jedenfalls beginnt diese dreiteilige Tanzperformance – und damit auch das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg: Michael Clarks „to a simple rock‘n‘roll … song“ bildete am Mittwoch den Auftakt. Wie eine nicht zu Ende gedachte Aufwärmübung wirkt der erste Teil der Performance: mechanisch, statisch, einfallslos.
Müder Auftakt
Drei Dinge hat sich der britische Choreograf vorgenommen, der im London der 1980er für Furore sorgte, indem er das klassische Ballett kurzerhand mit Post-Punk-Attitüde auflud und sich kurzschloss – mit bildenden Künstler*innen, Modedesigner*innen und Musiker*innen. Jetzt also: eine Auseinandersetzung mit seinen Mentor*innen wie Merce Cunningham und John Cage zu Erik Saties klavierhämmernder Metrik-Befreiung „Ogives“; eine Beschwörung der Energie der Proto-Punk-Heldin Patti Smith; und schließlich eine Hommage an den Glam-Rock-Heroen David Bowie.
Aber dieser Retro-Dreischritt gelingt nicht gut: Auch der zweite der rund 20-minütigen Teile bleibt betulich, obwohl es musikalisch mit Patti Smiths „Land“ doch schrammelig-punkgrollend wird: etwas weniger europäisches Ballett-, dafür mehr US-amerikanisches Modern-Dance-Bewegungsvokabular; ein bisschen mehr Sexyness in schwarzen Latexschlaghosen; ein schwules Tête-à-Tête nimmt die Jungsgeschichte des Songs auf. Aber auch das: leider nicht viel mehr als Dehnungsübungen.
Und nicht mal Bowie vermag den Abend zu retten: Zu vier seiner Stücke tanzen sie, jetzt in glitzernden Glamrock-Bodysuits, und ein schwarz gewandetes Wesen durchschreitet die Szenerie: Bowies Blackstar. Und bieder verebbt die Choreografie.
Aber so ein Festival zu machen, das ist eben immer ein Wagnis – eine Wette, die der Künstlerische Leiter András Siebold nun schon zum bereits fünften Mal ganz bewusst eingegangen sein will. Statt sich auf Berechenbares und längst Bekanntes zu verlassen, setzt er auch diesmal erklärtermaßen auf die einzigartigen Bedingungen, die der Spiel-, aber eben auch Produktionsort Kampnagel und das Format Festival bieten: auf die Möglichkeit, internationale Kollaborationen und Komplizenschaften über Jahre hinweg in flachen Hierarchien zu entwickeln; auf Pop als Strategie, Kritik zeitgemäß zu formulieren und Kunstgeschichte, Avantgarde und Gegenwartsfragen zusammenfließen zu lassen.
Thema (Un-)Sicherheit
Und auf ein offenes Publikum, das längst eingeübt ist, sich selbst einen Weg kreuz und quer durchs dicht geknüpfte Programmgewebe zu suchen und vielfältige Assoziationen zu entdecken. „Mit Sicherheit unsicher“, so lautet das diesjährige Motto, das ganze Programm ist locker davon durchzogen. Und nach den G20-Tagen in Hamburg hat das ja noch mal eine ganz neue Brisanz bekommen.
Für Siebold ein Kommentar zum „Ausnahmezustand“ der politischen Gegenwart: Immer ununterscheidbarer sei doch die politische Rhetorik von medialer Fiktion. „Angefangen beim US-Präsidenten, der direkt aus einer Reality-TV-Show ins Oval Office eingezogen ist, einen hohen Unterhaltungsfaktor hat und damit die mediale Öffentlichkeit bestimmt.“ Zunehmend sei eine eigentümlich Vermischung von Politik und Entertainment, von Werbung und Information, von Fake News und Real News zu erleben, sagt Siebold. Ob und wie das nun wieder aufzudröseln ist – und was man dagegen tun könnte: Damit beschäftigen sich am kommenden Samstag die Teilnehmenden der Sommerfestival-Konferenz „Disrupting Democracy“.
Politik der Kunst
Vor allem aber setzt das Festival auch zur Beantwortung dieser Frage auf die Mittel der Kunst. Denn das Spiel mit der Realität solle doch besser Sache der Künstler*innen bleiben, ist Siebold überzeugt. Und dass das Sommerfestival in dieser Hinsicht trotz des etwas müde wirkenden Auftakts nun gerade nicht unter einem schwarzen Stern steht, das macht schon der zweite Abend deutlich.
Eine beeindruckende Arbeit über politische Machtverhältnisse ist etwa der bildenden Künstlerin und politischen Aktivistin Tania Bruguera gelungen: Für ihre erste Theaterarbeit hat sie eine überzeugende neue Form für Samuel Becketts Grenzsituations-Einakter „Endspiel“ gefunden – 60 Jahre nach dessen Erstaufführung.
Ganz ernst genommen hat die Kubanerin, die unter anderem eine politische Partei für Migrant*innen und ein Institut für „Artivism“ gegründet und im kommenden Jahr für die Präsidentschaftwahlen in Kuba zu kandidieren angekündigt hat, die wohl schwierigste Voraussetzung Becketts: Angesiedelt ist das hoffnungslose Kammerspiel in einem düsteren Raum, dessen einzige Verbindung zur Außenwelt zwei winzige Fenster sind, die fast unerreichbar weit oben in den Wänden versteckt sind. Im klassischen Theater ist das schlicht nicht umzusetzen.
Bruguera hat deshalb einen achteinhalb Meter hohen Turm gebaut. In einem Gerüst stehen rund 80 Zuschauer*innen auf drei Ebenen verteilt – und blicken durch kleine Sichtschlitze herab auf das im klinischen weißen Zylinder stattfindende Spiel zwischen dem auf einer Rollliege liegenden blinden Herren Hamm und seinem Diener Clov – beide großartig gespielt von Brian Mendes und Jess Barbagallo. Am Rand: nur die zwei Mülltonnen, in denen beinlos Hamms Eltern Nagg und Nell vor sich hinvegetieren.
Das ist nicht nur eine eindrucksvolle Form, die Ausweglosigkeit und Abgeschlossenheit dieser hermetisch von der Welt ausgeschlossenen und auf Tod und Verderben miteinander eingeschlossenen Gemeinschaft in Szene zu setzen. Das permanente Stehen zwingt auch zu einer stets angespannten Haltung beim Mitleiden: Spätestens, wenn Hamm zum dritten Mal nach seinen Schmerztabletten fragt, klettert der Schmerz auch in den eigenen Kopf – ein erbarmungsloser Kniff für solch ein erbarmungsloses Stück.
Aber keine Angst: Derlei Strenge findet sich im Programm nur selten. Viel häufiger dafür das, was der Kanadier Socalled vier Jahre nach dem ersten Teil seines Puppenmusicals „The Season“ folgen lässt: ein großer Spaß ist die Geschichte rund um Bär, Biber und die anderen skurrilen Waldtiere – auch wenn deren Wald jetzt abgeholzt ist und sie sich in einer Posaunenfabrik als Sklaven verdingen müssen. Dazu gibt’s tolle Live-Musik, unter anderem mit dem einstigen Musical Director von James Brown, Fred Wesley. Und schon nimmt man eine ganz entspannte Haltung an.
bis So, 27. 8., Kampnagel, Jarrestraße 20, Hamburg
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