Straßenkämpfer unterwegs

VerkehrAuf den Straßen geht es aggressiver zu als früher, das ist in Berlin und deutschlandweit so. Beim Verhältnis von Rad und Auto hat Berlin mit dem Mobilitätsgesetz so auch eine Modellfunktion

„Schlampe“ und „Hure“ gehören zu den gängigen Beleidigungen, die Frauen in der Hektik des Berliner Straßenverkehrs zu hören bekommen. Männern geht es dann um Lappalien wie die Pole- Position an der Ampel. Mehr als 15.600 Berliner haben schon eine Petition gegen „Auto­machos“ im Internet unterzeichnet. Sie ist ein kleiner Seismograff dafür, dass das Verkehrsklima in der Hauptstadt immer rauer wird.

Wie in vielen deutschen Innenstädten nehmen Verteilungskämpfe um den Straßenraum zu. Mit dem ersten Mobilitätsgesetz will der rot-rot-grüne Senat Berlin wieder in die Spur bringen. Das Experiment gefällt nicht allen – es wird auch Verlierer geben müssen.

Dass sich auf Berlins Straßen etwas verändert hat, spürt Rechtsmedizinerin Saskia Etzold fast jeden Tag. In der Gewaltschutzambulanz der Charité dokumentiert sie Verletzungen.

„Autofahrer reißen die Autotür auf und greifen Passanten an. Oder sie schlagen Radfahrer an der Ampel durch das geöffnete Fenster“, berichtet sie. Wenn sich Fußgänger bei Radfahrern beschwerten, bekämen manche als Antwort eine Faust ins Gesicht. „Das geht über Rücksichtslosigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwelle sinkt“, betont Etzold. Die aufgeladene Stimmung registrieren Verkehrsforscher auch in bundesweiten Umfragen. Die Folgen reichen über Aggressivität bis zur völligen Missachtung des ersten Paragrafen der Straßenverkehrsordnung: gegenseitige Rücksicht und Vorsicht. „Die Akzeptanz von Verkehrsregeln ist nicht gerade auf dem Vormarsch, besonders wenig bei Radfahrern“, urteilt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. „Die rote Ampel ist so ziemlich das Einzige, wo ich noch sagen würde: Da halten sich zumindest Autofahrer dran.“

Die Lage ist für Brockmann oft hausgemacht. Wenn Politik den Radverkehr laut propagiere, dann komme er auch. „Doch die meisten Kommunen sind darauf gar nicht vorbereitet“, bilanziert der Forscher. Infrastrukturplanung fürs Rad sei nicht selten irgendwo in den 70er Jahren stehen geblieben, selbst in Hochburgen wie Münster.

Berlin will nun umsteuern – getrieben von einer wachsenden Radlobby, die ihre Rechte selbstbewusst bis hin zu Volksbegehren einfordert. Die konkreten Pläne sind ehrgeizig. Mit dem neuen Mobilitätsgesetz, das bis Ende des Jahres in Kraft treten soll, haben öffentliche Verkehrsmittel und das Rad künftig Vorrang vor Autos. „Je mehr Menschen auf Bus, Bahn oder Fahrrad umsteigen können und wollen, desto schneller kommen auch die voran, die auf das Auto angewiesen bleiben“, argumentiert Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos/für Grüne. Die Autolobby grollt aber schon hörbar.

Mit breiten Radwegen auf den Straßen ist es für Unfallforscher Brockmann nicht getan. Autofahrer parkten sie zu oft zu und zwängen Radfahrer damit zu riskanten Ausweichmanövern – oder sie öffneten abrupt die Fahrertür. Das kostete in Berlin jüngst einem Radfahrer das Leben. 17 tote Radfahrer gab es in der Hauptstadt 2016 insgesamt – deutlich mehr als in den Vorjahren. Bundesweit kamen fast 400 Radfahrer ums Leben.

Attraktive Radwege auf verbreiterten Bürgersteigen hält Brockmann für sicherer. Doch auch dafür müssten Autofahrer eine Spur abgeben.

Die Berliner Opposition spricht von „Klientelpolitik“ auf Kosten der Autofahrer. Wirtschaftsverbände warnen davor, den Lieferverkehr auszubremsen. Doch der Senat will trotzdem, dass an allen Hauptstraßen Berlins sichere Radwege entstehen, dazu Radschnellwege für Pendler. Für Verkehrsforscher ist das der richtige Weg – aber auch ein Risiko. „Wenn es der Senat nicht schafft, den Radverkehr in puncto Sicherheit und Komfort voranzubringen, wäre das ein verheerendes Signal. Berlin hat eine Modellfunktion“, sagt Siegfried Brockmann.

Wie das Umsteuern im Detail aussehen kann, bekam der Regierende Michael Müller vor Kurzem persönlich zu spüren. In der Nähe seines Wohnhauses wurden mehrere Parkplätze abgeschafft, um mehr Platz für Radler zu schaffen. Müller protestierte beim Bezirksamt gegen die „überzogene Maßnahme“. Genützt hat es nichts. Das Parkverbot blieb. (dpa)