LeserInnenbriefe
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Flaschen aus den eigenen Reihen

betr.: „Der Anteil der Anteillosen“, taz vom 13. 7. 17

Thomas Seiberts Einsortierung der Freitagnacht ist, vorsichtig gesagt, irritierend. Wenn die Sachbeschädigungen „in einigen Zügen männlich grundiert“ waren, wäre ich sehr interessiert an Hinweisen auf Szenen, die nicht typisch jung-männliches Verhalten zeigen. Als Aktivistin habe ich es gründlich satt, mich nicht nur gegen Polizeigewalt schützen zu müssen, sondern auch gegen Flaschen aus den „eigenen“ Reihen, deren alkoholischen Inhalt sich die Werfer vorher selbst zugeführt haben. Und ich habe es auch gründlich satt, wenn diesem (zu-)spät-pubertären Chauvitum auch noch das warme Mäntelchen der politischen Bedeutung umgehängt und Revolutionsromantik bemüht wird. Das tut Seibert, wenn er das „Unvernehmen“ des französischen Philosophen Rancière bemüht. Die Akteure gehören laut Seibert zu den „zur Minderheit Verdammten“ und fordern ihren „Anteil der Anteillosen“, weil „ihnen im Einvernehmen der Mehrheitskommunikation kein Platz bleibt“.

Erstens: Vielleicht sind sie auch einfach zu bequem, sich in den Debattenraum einzubringen? Auch Ingo Arzts Hypothese von „Fuck you, Mama, nie wieder Bettgehzeiten!“ klingt plausibel. Oder die vielseitig verwendbare Ärzte-Interpretation „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“. Und zweitens: Trifft die Beschreibung als „anteillos“ auf alle Leute zu, die Kommunikation und Rechtfertigung verweigern und dies offen zeigen? Auf Josef Ackermanns „Viva“ im Mannesmann-Prozess? Auf Männer, die sich bei nichteinvernehmlichem Sex filmen und das posten? Linke, emanzipatorische Akte von Ermächtigung sind solche, die von unten kommen und sich gegen ein Oben richten. Welche benachteiligte Bevölkerungsgruppe sollte sich in Hamburg mit welchem neuen Anliegen artikuliert haben – die unterprivilegierte Gruppe der jungen, körperlich fitten Männer mit sicherem Aufenthaltsstatus? Diesen Leuten stehen alle möglichen gesellschaftlichen Foren offen! Kapitalismuskritik, auch unversöhnliche und radikale, ist argumentierbar – und damit gerade keine Situation des Rancière’schen Unvernehmens. Mit übersteigertem Dominanzverhalten auf Frustration und Verletzung zu reagieren, ist eine typisch männlich ansozialisierte Form der Problembewältigung. Die gewaltförmige Artikulation in Hamburg fügte dem in keiner Hinsicht etwas Neues hinzu.

ULRIKE MÜLLER, Berlin

Arbeiten im geschützten Rahmen

betr.: „Specht der Woche“, taz vom 14. 7. 17

Hallo liebe taz, in unserer Werkstatt ist die Höhe des Entgelts öfter Thema, auch von Seiten unseres Werkstattrats. Dass ein Beschäftigter aufgrund irgendwelcher Forderungen gekündigt würde oder gekündigt werden könnte, ist falsch. Man sollte bezüglich der Diskussion um unseren Verdienst auch bedenken, dass jeder unserer Arbeitsplätze mit hohen Summen seitens des jeweiligen Leistungsträgers subventioniert wird. Soweit ich weiß, ist keine Werkstatt profitabel, und viele haben vermutlich mehr Ausgaben (zum Beispiel für Arbeitsmittel und Personalkosten) als Einnahmen. Viele der Beschäftigten sind sehr begrenzt leistungsfähig, wodurch ihre jeweilige Arbeit eher einer Beschäftigungstherapie ähnelt, also die Produktivität sehr gering ist.

In unserem Betrieb haben wir aufgrund der individuellen körperlichen oder psychischen Einschränkungen sehr hohe Krankenstände. Es gibt Kollegen, die sich regelmäßig zwei Tage in der Woche krank melden, was manchmal auch nichts mit Krankheit, sondern mit Unlust zu tun hat. Daran würde auch eine höhere Bezahlung definitiv nichts ändern. Wir befinden uns hier in einem geschützten Rahmen und haben damit Rechte, die ein normaler Arbeitnehmer nicht hat. Unser Arbeitsplatz ist uns garantiert, und ich weiß nicht, was man sich leisten müsste, um überhaupt entlassen werden zu können. Ich persönlich bin froh, dass es diese Möglichkeit zu arbeiten gibt, da ich selbst wegen einer psychischen Erkrankung auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Woche überleben würde. Für mich ist eine Tagesstruktur wichtig, und ich habe das Glück, dass es für mich sogar einen recht anspruchsvollen Arbeitsplatz gibt, was die Ausnahme ist. Natürlich hätte ich gegen ein höheres Entgelt nichts einzuwenden. Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn die Sonderzahlung, die von unserem Betrieb ein bis zwei mal im Jahr ausgeschüttet wird, nicht mit der Grundsicherung verrechnet würde. Aber bei allem, was Kritisches über Behindertenwerkstätten geäußert werden kann, bin ich jedenfalls glücklich, dass es sie gibt. Schöne Grüße!

(Name ist der Redaktion bekannt.)

Die schärfste Waffe bleibt das Wort

betr.: „Hurra, die Welt geht unter“, taz vom 15./16. 7. 17

Liebe tazzen, das war der erste fundierte Artikel, den ich anlässlich der Ereignisse in Hamburg in der taz gelesen habe, in der Qualität, die ich von meiner Zeitung gewohnt bin.

Gleich welche Fehler Polizei und ihre Einsatzleitung auch gemacht haben, die Verantwortung für das Tun auf der Straße tragen die selbst, die daran beteiligt waren. Sie haben jetzt erreicht, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf ihre Gewalthandlungen fokussiert. Viele haben wohl gar nicht mitbekommen, dass insgesamt 100.000 Menschen friedlich gegen die G20 demonstriert haben. Und wer fragt noch, wieso und warum? Frau Merkel, schicken Sie einen dicken Blumenstrauß in die Flora! Ach ja, die leidige Gewaltfrage – in dem ständigen politischen Ringen der Schwachen gegen die Mächtigen ist die schärfste Waffe das beharrlich angewandte kluge und mutige Wort. Das fürchten die Mächtigen. Mit Gewalt kennen sie sich ja bestens aus und schlagen zurück. Liebe Grüße.

FRED BARTULEIT, Latendorf