Ein deutscher Tugendterrorist

Wie man mit Überwachen und Strafen eine Ich-AG gründet: Das Maxim Gorki Theater hat Marcus Mittermeiers Film „Muxmäuschenstill“ für die Bühne neu bearbeitet

Mit Werten ist das so eine Sache. Besonders, wenn sie nicht messbar sind. Spätestens als westliche Politiker die Erste Welt nach dem 11. September als „abendländische Wertegemeinschaft“ in Stellung bringen wollten, konnten viele nur noch ein Vakuum feststellen. Egoismus und Raubtierkapitalismus hatten die Werte irgendwie aufgezehrt. Da kam Mux wie gerufen – ein Filmheld, wie es ihn im deutschen Kino noch nicht gegeben hatte. Mux trat als Ich-AG gegen den Werteverfall an; stellte Kaufhausdiebe, Autobahnraser, Schwimmbadpinkler und Kinderpornokonsumenten, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen, deren Maß der selbst ernannte Law-and-Order-Mux im Alleingang festlegte. Das Geschäft mit Überwachen und Strafen floriert, bald kann die Ich-AG erste Mitarbeiter einstellen. Am Ende gibt es ein deutschlandweites Filialennetz.

Dem Schauspieler Jan Hendrik Stahlberg war die Rolle des Moralunternehmers Mux auf den Leib geschrieben. Als sensibler Psychopath und Tugendterrorist reinigte er in der von Marcus Mittermeier verfilmten Komödie „Muxmäuschenstill“ Deutschland von Straftätern jeder Couleur und faszinierte als virtuoser Jongleur zwischen Common Sense, Wahnsinn und alltäglichem Faschismus.

Jetzt hat der Stoff seinen Weg ins Theater gefunden. In Nico Rabenalds (Text) und Volker Königs (Regie) Version, die am Wochenende im Studio des Maxim Gorki Theaters Premiere hatte, begegnet man Mux (Ingolf Müller-Beck), als er längst Chef der florierenden „Gesellschaft für Gemeinsinnpflege“ ist. Ausstatterin Halina Kratochwil hat ihm ein weißes Büro mit teuren Möbeln gebaut, dessen Schräge manchmal hilfreich bei Slapstickeinlagen ist, weil hier Bürostühle so schön herunterrollen können. An der Rückwand laufen gelegentlich Videoschnipsel, die Mux und sein Moral-Kommando bei der Arbeit zeigen, in der U-Bahn bei der Fahrscheinkontrolle zum Beispiel.

Womit man schon bei der Hauptschwierigkeit dieser Bühnenadaption wäre: wie nämlich Mux’ Aufräumarbeiten draußen in unserer verfallenen Gesellschaft drinnen auf einer Bühne überhaupt darstellbar sind. Zunächst gibt es noch eine kleine Improvisation mit Zuschauern. Entlarvt wird eine Frau, die auf der Toilette fünf Euro Trinkgeld geklaut hat. Doch die Straftäterin entpuppt sich als Schauspielerin: Hier wird das Säubern der Welt vom Straftäter-Unrat auf dem Trockenen – sprich: im Büro – geübt, und so richtig will sich der Effekt des schleichenden Wahnsinns deshalb nicht einstellen. Eher hat man das Gefühl, dass in Mux’ Gesellschaft ganz reale Kaufhausdetektive ausgebildet werden. Auch die Gefangennahme eines Pädophilen, der zur Strafe mit dem Pornovideo, das er anschauen wollte, vergewaltigt wird, ist in diesem Rahmen noch durchaus vorstellbar.

Höchst unwahrscheinlich ist allerdings, dass Mux’ vertrottelter Gehilfe (Silvio Hildebrandt) in seiner Trainingshose (Kostüme: Hanne Günther) während des Einstellungsgesprächs Kants Kategorischen Imperativ zitiert. Und so dauert es eine Weile, bis man die subtile Erzählweise des Films in diesem etwas hölzern gestrickten Theaterabend nicht mehr vermisst und dem cholerisch-tyrannisch agierenden Ingolf Müller-Beck den Mux richtig abnehmen kann.

Wie im Film endet auch hier die Geschichte tödlich. Mux erschießt die angebetete Kira (Julia Philippi), weil sie seinem Moralwahn nicht entspricht. Gespielt wirkt alles etwas grob. Und das Medium Theater sieht neben dem Film plötzlich fast ein bisschen ältlich aus. ESTHER SLEVOGT