Obama ist die Zukunft

JUBEL Trotz Krise und Tea Party: Obama hat mit seiner Wiederwahl Geschichte gemacht. Eine Nacht unter seinen Anhängern

AUS CINCINNATI UND WASHINGTON, D. C. DOROTHEA HAHN
UND BERND PICKERT

„Ich hab eine Scheißangst“, hatte Jessica Thomas noch gesagt, auf dem Weg zur Wahlparty in Chavy Chase, dem nordwestlichsten Zipfel der Hauptstadt Washington. Angst nicht vor der Party, sondern vor einem Präsidenten Mitt Romney. Jessica, 24, ist aus Tennessee, und sie macht gerade ein Praktikum in D.C., ihr Thema: Reproduktive Gesundheit. Ein Button, den sie stets an ihrem Taschenriemen trägt, verkündet: „I love Family Planning“.

Aber Romneys Republikaner haben angekündigt, alle öffentlichen Gelder für „Planned Parenthood“ zu streichen, die größte Familienplanungsorganisation in den USA. Planned Parenthood kümmert sich um sexuelle Aufklärung, um HIV-Prävention, um Verhütung und um Abtreibungen – und sie bekommen seit 1970 Bundesmittel, auch wenn immer wieder konservative und christliche Fundamentalisten dagegen geklagt haben. Jessica sorgt sich nicht nur um ihre berufliche Zukunft, sondern sie kriegt die kalte Wut. Aber trotz aller Unsicherheit, ob es an diesem Abend etwas zu feiern geben wird, hat sie ihre Füße in High Heels gesteckt, mit denen sie kaum den Weg zur Metro schafft.

Die Party ist klein, ein paar Leute haben sich kurzfristig krankgemeldet, umso mehr Essen gibt es für alle, die da sind. Das sind allesamt Demokraten älteren Baujahrs.

Irgendwann geht es dann Schlag auf Schlag: Todd Akin, der „Legitimate-rape“-Senatskandidat aus Missouri, verliert, genauso der „Auch-eine-Empfängnis-durch-Vergewaltigung-ist-ein-Gottesgeschenk“-Kandidat Richard Mourdock in Indiana. Die Runde ist erleichtert und klatscht, nur Virginia macht Sorgen, der Nachbarstaat. In den ersten Hochrechnungen liegt der demokratische Senator Tim Kaine hinter seinem Herausforderer zurück. Am Ende gewinnt er trotzdem, und auch der Bundesstaat geht an Obama.

Schließlich gibt auch der rechte Sender Fox News Obama den Sieg

Plötzlich ist es vorbei. In den Vorgärten brennen die ersten Feuerwerke. „Der Nachbar ist Republikaner“, flüstert Gastgeberin Mary. Bei ihm ist alles dunkel. Dann eine Schrecksekunde: Karl Rove, Bushs alter Wahlstratege, der mit seiner Organisation „American Crossroads“ viele Millionen Dollar in den republikanischen Wahlkampf gesteckt hat, verkündet auf Fox News, man werde den Wahlsieg nicht anerkennen und das Ergebnis in Ohio anfechten. Romney hat seine Niederlage auch noch nicht eingestanden, Obama noch nicht angerufen. Aber selbst Fox gibt schließlich Obama den Wahlsieg.

Er hat Geschichte gemacht. Dieses Mal als einer, der trotzdem gewinnt. Trotz anhaltend hoher Arbeitslosenquote und Staatsverschuldung. Trotz der massiven rechten Basisbewegung gegen ihn. Trotz des gewachsenen Einflusses der Milliardäre auf die Politik. Und trotz der Ernüchterung seiner eigenen Basis über eine erste Amtszeit, in der er die Einlösung vieler Wahlversprechen schuldig blieb.

Am Ende war es ein Sieg auch mit den Stimmen mehrerer wichtiger Bevölkerungsgruppen, die ihm viel stärker treu geblieben sind, als das selbst Optimisten erwartet hatten.

Obamas Wiederwahl macht ihn zum Präsidenten der Frauen, der Jungen, der Afroamerikaner und der Latinos. Er hat Gruppen gewonnen, die für eine Zukunft stehen, in der – nach dem Jahr 2040 – die weiße Bevölkerung in die Minderheit rücken wird. Im Vergleich dazu nimmt sich Mitt Romneys Anhängerschaft wie ein Auslaufmodell aus.

Während Romney in Boston die übliche schnieke Gesellschaft versammelt hat, spiegeln Obamas Anhänger in Chicaco die USA des Landes 2012. Facettenreich, mit zahlreichen Minderheiten, innen-, sozial- und außenpolitisch interessiert. Dieses Volk hat Obama als „amerikanische Familie“ beschrieben, in der „Schwarz oder Weiß, Jung oder Alt, gay oder hetero“ nicht zählen. Und in der es ein „Together“ gibt. Das zufällig auch einer seiner Wahlslogans war.

Natürlich stellt sich die Frage, wie viel von seinem Wahlsieg Obama seinem Herausforderer verdankt. Romney hat sein Millionenvermögen mit Geschäften verdient, die Arbeitsplätze in den USA zerstört haben. Er hat politische „Überzeugungen“, die im Zickzack verlaufen, und er wurde im Wahlkampf von einer Basis angetrieben, die radikal nach rechts gedriftet ist.

Aber zugleich ist da die unübersehbare Stärke von Obamas eigener Basis. Viele jener, die ihn im Wahlkampf unterstützt haben, und auch viele, die über Protestbewegungen wie Occupy-Wall-Street in den Wahlkampf geraten sind, stehen weit links von ihm. Viele haben Obama radikal kritisiert. Zugleich glauben sie, dass es in der gegenwärtigen politischen Gemengelage nur mit ihm als Präsidenten eine Möglichkeit gibt, weiterzukommen. Sie wollen endlich eine Einwanderungspolitik, die die mindestens zwölf Millionen Papierlosen integriert, eine echte Umwelt- und Klimapolitik, mehr Bürgerrechte statt Kontrolle im Innern. Und Menschenrechte statt Guantánamo, Drohnen und Kriege.

Ohne die Unterstützung kritischer Linker hätte Obama nicht gewonnen

Ohne die Unterstützung dieser kritischen Wegbegleiter hätte Obama nicht gewinnen können. Am Wahlabend hat er ihnen endlich ein paar überfällig Dinge gesagt. Auf manche davon haben sie sehr lange gewartet. Zum Beispiel auf den Satz über die „zerstörerische Kraft der Erderwärmung“. So etwas war im Wahlkampf ein Tabu.

Nun steht ihm eine neuerliche Konfrontation mit den Republikanern bevor. Im Repräsentantenhaus bleiben die Republikaner in der Mehrheit. Romney als Kandidat hat viel von der „ausgestreckten Hand“ gesprochen. Doch Romney ist seit diesem Dienstag ein Mann der Vergangenheit. Schon zuvor hat die Tea-Party-Basis ihm nie voll vertraut. Jetzt, da niemand mehr die radikale rechte Basis zu taktisch korrektem Verhalten anhalten wird, ist vieles möglich. Auch weil Obama selbst im Wahlkampf den Ton verschärft hat und zu einem Mann der „klaren Unterschiede“ geworden.

Das Land spürt, dass es sich ganz allmählich aus der Krise herausbewegt, die kurz vor Obamas erster Wahl mit dem Platzen der Immobilienblase begann. In den nächsten Jahren wird sich – und das wäre unter jedem neu gewählten Präsidenten geschehen – der Arbeitsmarkt voraussichtlich neu beleben. Doch für viele Schritte – zuvörderst die Steuerpolitik und die Haushaltspolitik – muss Obama mit heftigem Gegenwind, wenn nicht erneuter Blockade rechnen.

Doch vorher stehen in dieser Nacht am Weißen Haus Hunderte Menschen, die meisten Mitte 20, sie kreischen und schreien „O-ba-ma“ und „Four more years“ und „Yes, we did!“. Autos fahren laut hupend vorbei, die Fahrer schwenken US-Fähnchen. So war es vor vier Jahren auch, nur war es viel wärmer, es waren viel mehr Menschen, und alle haben geweint. Diesmal weint keiner. „Romney hat aufgegeben“, liest einer auf seinem Smartphone. Keine Schlammschlacht.

Auch Jessica Thomas hat die High Heels gegen Laufschuhe getauscht und sich in ein Taxi gesetzt. Jetzt steht sie hier und stellt auf dem Smartphone Fotos vom Weißen Haus auf Facebook. Ihr geht es gerade sehr, sehr gut.