Tour de France anno 1928
: Zum Wundlesen

In David Coventrys Tour-Roman wird gelitten, dass es eine wahre Qual ist

Kulturbeutel

von Andreas Rüttenauer

Es dämmert, als sich die Fahrer auf den Weg zur neunten Etappe machen. Gleich wird es dunkel sein, denn es ist die Abenddämmerung, in der Tour-de-France-Erfinder Henri Desgrange die Fahrer in Richtung Pyrenäen schickt. Ein junger Radler aus Australien hat Respekt, als er an jenem 26. Juni des Jahres 1928 auf sein Rad steigt. Die Etappe von Hendaye nach Luchon hat es in sich. Es geht ins Hochgebirge auf den Tourmalet und den Aubisque, es geht bergauf und bergab – und das lange Zeit bei stockfinsterer Nacht. „Ich weiß, dass ich bis Sonnenaufgang fünf-, sechsmal vom Rad gestürzt sein werde“, meint er, bevor es losgeht.

Ein paar Tage später werden die Wunden geleckt beim neuseeländisch-australischen Team, das zu dieser Tour eine Einladung erhalten hat und eingeschifft worden ist. Das Team stellt eine Liste auf. „Verstauchtes Handgelenk, gebrochener Finger, verrenkter Daumen, Unterleibsprellungen, abgebrochene Zähne, wunde Brustwarzen, Furunkel, Rückenschmerzen, Durchfall, Schürfwunden an Knien, Ellbogen, Unterarmen, Stirn, Oberkörper, Schultern, Köcheln, Erkältung, grippaler Infekt, verstauchter Knöchel.“ Einen Grund zum Aufgeben mag darin keiner der kühnen Männer sehen. Halb so schlimm. Einer der Favoriten ist so schwer gestürzt, dass man ihm das eitrige Bein hat ab­nehmen müssen. Immerhin das gilt als Grund zum Aufgeben.

Mit einer guten Dosis Kokain, ein wenig Heroin und Ephedrin sowieso geht es erst immer weiter. Eigentlich unbeschreibliche Qualen sind es, die David Coventry in seinem Roman „Das unsichtbare Rennen“ (Insel, 2017) da beschreibt. Es geht um einen Neuseeländer, der einmal ein gutes Rennen in der Heimat gefahren ist und so im ersten englischsprachigen Team gelandet ist, das je bei einer Tour an den Start gegangen ist.

Der leidet sich durch Frankreich und arbeitet dabei den Tod seiner Schwester auf und schlüpft in die Rolle seines Bruders, der zehn Jahre zuvor im Krieg nicht weit von einem Ort abgeschossen worden ist, durch den das Peloton nun radelt. Persönliche Dramen, finstere Kriegserlebnisse und die Qualen auf zwei Rädern. Es ist ein brutales Buch, das Coventry da geschrieben hat.

Nur selten gibt es Erholung. Einmal sieht sich einer der Ozeanier im Zielsprint auf gleicher Höhe mit dem überlegenem Mann in Gelb, dem Luxemburger Nicolas Frantz, und ist stolz, dass er mit dem Überfahrer, der das Rennen seit der ersten Etappe anführt, mithalten kann. Dann sieht er, dass Frantz auf einem kleinen Damenrad unterwegs ist. Ihm war unterwegs der Rahmen gebrochen und er nahm das nächstbeste Ersatzrad. Schon ist die kurze Freude wieder verflogen und es wird weitergelitten, was das Zeug hält. Wer das liest, dem wird schier der ganze Körper wund von all den Schmerzgeschichten, die gerade deshalb so stark wirken, weil Coventry den Mythos von den harten Hunden auf den harten Satteln so schön weiterschreibt.

Dass der wahre Nicolas Frantz 1928 mit einem Damenrad die 19. Etappe von Charleville nach Metz beendet hat, gehört zu den wahren Legenden, die die Tour so groß gemacht haben, wie sie es bis heute ist. Wahr ist auch, dass ein neuseeländisch-australisches Team in jenem Jahr an der Tour teilgenommen hat. Ihr Bester, Harry Watson, war einer von 41 der 162 gestarteten Fahrer, die das Rennen beendet haben. Nach 5.375 Kilometern belegte der Neuseeländer am Ende Platz 28 und wurde in seiner Heimat, wie kann es anders sein, zur Legende.