Kanzlerkandidatin gegen Jesus

Gerhard Schröder schwebt immer noch über den Dingen, interpretiert das Wahlergebnis auf seine eigene Weise und ist wild entschlossen, Bundeskanzler zu bleiben – am liebsten in einer Ampelkoalition

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Das einprägsamste Bild für den Gemütszustand der SPD an diesem Montag nach der verrückten Wahl findet, wie so oft, der bayerische Sprachwirbler Ludwig Stiegler, Fraktionsvize seiner Partei: „Wir sind die Auferstehung und das Leben.“

Ja, da macht Politik natürlich wieder Spaß. Der Auferstandene betritt zur Mittagszeit im Willy-Brandt-Haus in Berlin die Bühne und nimmt lächelnd die Huldigung seiner Genossen entgegen. „Gerhard! Gerhard!“, rufen die Mitarbeiter der Parteizentrale. Auch wenn dieser Gerhard seit Sonntagabend in der SPD den Status von Jesus hat – für Momente gibt er sich noch ganz weltlich und reckt den rechten Daumen in die Höhe. Parteichef Franz Müntefering überreicht ihm einen Strauß roter Gerbera mit roten Rosen, dankt „unserem Bundeskanzler“ und merkt an, dass dieser ein unglaubliches Ergebnis „gegen viele Widerstände in diesem Land“ erkämpft habe.

Dann verteilt Jesus seine Gaben. Er dankt der Partei, der Kampa, aber „vor allem“ Franz Müntefering, „ohne dessen Loyalität, Hilfe und Rat“ dieser Kampf nicht möglich gewesen wäre. „Deshalb ist es unser gemeinsamer Erfolg.“ Damit ist klar, dass Müntefering Schröders wichtigster Jünger ist, und zwar uneingeschränkt. An diesem Duo kommt in der SPD im Moment niemand vorbei. Müntefering wird also nicht nur Parteichef bleiben, sondern sich heute auch als Fraktionsvorsitzender wiederwählen lassen.

Die beiden starken Männer haben sich am Sonntagabend nicht etwa im Überschwang der Gefühle oder gar unter Einfluss bewusstseinstrübender Mittel so rauflustig und siegesgewiss gegeben. Ihnen ist es ernst mit ihrem Anspruch, weiterhin eine Regierung unter Schröders Führung zu bilden. „Todernst“, wie ein SPD-Präsidiumsmitglied voller Ehrfurcht hinzufügt.

Die Voraussetzungen für diesen Coup schaffen der Kanzler und sein Parteichef am Montag sowohl im Präsidium als auch im Vorstand. Teil eins des Pokerspiels: Der Union wird einfach das Recht abgesprochen, über eine Regierungsbildung federführend zu verhandeln. „Die Botschaft dieser Wahl lautet: Dieses Land will Merkel als Kanzlerin nicht“, sagt Müntefering. Und so erinnert der SPD-Vorsitzende in Briefen, die er Montagmittag an die Parteichefs von CDU, CSU, FDP und Grünen schickt, an das Wahlergebnis aus sozialdemokratischer Sicht: Die CDU, so rechnet Müntefering vor, habe nur 27,8 Prozent errungen und die CSU mit 7,4 Prozent das schlechteste Ergebnis der kleinen Parteien erzielt. Logische Folge seiner sehr mathematischen Argumentation: Die SPD ist „eindeutig die stärkste Partei“, sie wird den Kanzler stellen und lädt zu Sondierungsgesprächen ein.

Es sei doch „Tradition in Deutschland, dass CDU und CSU als verschiedene Parteien auftreten“, erklärt Müntefering diesen kleinen, fiesen Trick am Nachmittag auf einer Pressekonferenz. Als die Journalisten lächeln, setzt er nach: „Ich wundere mich, dass sich so viele wundern, dass das zwei Parteien sind.“

Aber das ist ja noch längst nicht alles. Teil zwei des Pokerspiels: Die FDP soll in eine Ampel gezwungen werden, auch wenn die SPD-Spitze offiziell verlauten lässt, sie präferiere keine Koalition und wolle mit allen Parteien Gespräche führen, ausgenommen die Linke.PDS. Müntefering, Verhandlungsführer der Sozialdemokraten, betont allerdings, dass aus seiner Sicht nur drei Regierungsmodelle die notwendige „belastbare Mehrheit“ im Bundestag garantieren: große Koalition, Ampel sowie Schwarz-Gelb-Grün. Der Kanzler hingegen macht im Parteipräsidium eine unmissverständliche Ansage: Die SPD als Juniorpartner einer großen Koalition sei das Schlimmste, was der Partei passieren könne. Folglich werde es das nicht geben.

Natürlich registriert die SPD, dass die FDP eine Ampel wieder und wieder ausschließt. Deswegen versucht sie ja auch, die Liberalen mit einer feinsinnigen Argumentation zu ködern. Die 10 Prozent FDP-Wähler hätten doch eindeutig gegen eine große Koalition gestimmt, sagt das linke Präsidiumsmitglied Andrea Nahles. Jetzt müsse die FDP-Führung darauf bedacht sein, die ihrer Partei zugedachte größere Rolle auch wirklich zu spielen. In einer rot-grün-gelben Regierung, versteht sich.

Müntefering schlägt einen etwas härteren Ton an. Er fordert die Liberalen auf, nachdem sie am Sonntagabend ein wenig „übermütig“ geworden seien, auf den „Boden der Realitäten“ zurückzukehren. Das überlassen die Sozialdemokraten natürlich nicht dem Zufall. Wie aus der Parteispitze zu hören ist, habe der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kurt Beck mit seinem alten Spezi Rainer Brüderle, dem FDP-Vizechef, bereits Kontakt aufgenommen. „Der Beck ist jetzt einer unserer wichtigsten Leute“, sagt ein Spitzensozi. Klar, der Rheinland-Pfälzer führt als Ministerpräsident eine erfolgreiche sozialliberale Koalition. Beck kann die FDP ganz gut leiden.