Ein Profi in Fundsachen

Gestohlene Portemonnaies aufzuspüren ist mehr als ein Hobby für den Rentner Hans Klein. Tagtäglich fährt er seine Route ab, sammelt zurückgelassenes Diebesgut ein und schickt es den Besitzern zurück. Zum Lohn stapeln sich zu Hause die Dankesbriefe

„Ich finde täglich Geld“, sagt der Kölner Rentner Hans Klein, „ich zieh das an“.

AUS KÖLN ISABEL FANNRICH

Jeden Morgen, wenn die Stadt erwacht, beginnt für Hans Klein sein ganz privater Wettlauf. Nach fünf Uhr hält ihn nichts mehr im Bett. Um sieben treibt es ihn aus dem südlich von Köln gelegenen Haus. Er radelt in die Stadt, nimmt ein Frühstück im Café – und taucht für zwei Stunden in einen Mikrokosmos ab: die Welt der Taschendiebe. Seit sieben Jahren fährt der 63-jährige Rentner täglich außer sonntags seine Route durch Köln, immer mit dem Ziel, vor den Straßenfegern, Wachleuten und anderen Rentnern am richtigen Ort zu sein.

200 mal vier Meter. „Für diesen Grünstreifen brauche ich 15 bis 30 Minuten.“ In seinem leuchtend roten Poloshirt, den hellblauen Bermudas und Sandalen schlägt Klein sich ins Gebüsch, greift in gebückter Haltung in das belaubte Unterholz, streicht Papierfetzen glatt. Weil er seinen Stock mit Haken verloren hat, der vor allem für nasses Laub nützlich ist, streift er sich die Spinnenweben von den Händen. „Ich bin nicht empfindlich“, sagt er lachend. „Aber zu Hause trinke ich ein Schlückchen Melissengeist. Das hilft gegen alles.“

Die eiligen Passanten schauen Klein zwar verwundert an. Was er da treibt, scheinen aber die wenigsten zu begreifen. Denn nur wer genau hinschaut, entdeckt, was in Gullis und hinter Stromkästen, im Gebüsch, hinter Mauern oder selbst in der Halterung von Verkehrsschildern versteckt oder abgelegt ist. „Man kann überall etwas finden.“ Das fasziniert Klein immer wieder. 533 Portemonnaies hat er in der Kölner Innenstadt in sieben Jahren bislang aufgespürt, fast 700 Fundsachen insgesamt, darunter geheimnisvolle Koffer, Taschen voller Wäsche und einmal auch ein Maschinengewehr.

Immer dieselbe Strecke fährt der drahtige, braun gebrannte Mann mit dem Damenrad ab. Von der düsteren Überbauung der Sparkassenzentrale radelt er über den stillen Hof der Stadtbibliothek an stark frequentierten Straßenbahn-Haltestellen vorbei in die enge Altstadt, hinunter zum Rhein. Unauffällig hält er Ausschau, stoppt, springt ab, sucht. Und fährt weiter. Wie bei einer Schnitzeljagd weisen ihm vor allem die Papierschnipsel den Weg. Wo er zerrissene Fahrscheine, Visitenkarten oder sogar Ausweise findet, „da liegt in der Nähe meist noch das Portemonnaie“.

Klein begeistert sich für seine Sache. Immer wieder aufs Neue. Er ist voller Geschichten und wird nie nicht müde, sie zu erzählen. Die Zahl der Fundstücke in einem bestimmten Mülleimer oder Gebüsch, ihr Weg zurück zu den Besitzern und deren Namen sind in seinem Kopf gespeichert. Die vielen Dankesbriefe heftet er in Ordnern ab. Er dokumentiert jeden Fund, schreibt auf, wie viel Porto er ausgegeben, wie viel Finderlohn er bekommen hat. Weil er einen Teil dieses Geldes an SOS-Kinderdörfer, Mundmaler oder für Kriegsgräber spendet, stapeln sich auch die Quittungen in seinen Mappen. Auf einer klebt ein Schild vom 1. FC Köln: „Wir sagen Nein zum Ausländerhass.“ Klein ist kein Ideologe, der gegen die „Klaukids“ am Bahnhof wettert oder gegen drogenabhängige Kleinkriminelle. „Mir macht das Spaß“, verkündet der Mann mit den wachen Augen.

Sobald Klein am Rheinufer nördlich des Doms ankommt, steigert sich seine Aufregung. Hier liegt sein Haupt-Jagdgebiet. An einer Mauer, die den schattig-düsteren Radweg von der Promenade trennt, stellt er sein Fahrrad ab. Zwischen Radweg und Rheinuferstraße erstreckt sich ein mehrere 100 Meter langer dichter Gebüschstreifen. Ein junger Mann mit Rucksack und Schlafsack schiebt sich durch die Zweige und läuft erst in die eine, dann in die andere Richtung. „Der hat die Nacht hier verbracht“, stellt Klein fest, als er die platt gedrückte Stelle mit den aufgerissenen Spritzenhüllen untersucht. „Das ist doch Wahnsinn. Aber die Polizei sagt: Besser sie schlafen hier, als in der Innenstadt.“

„Ich finde täglich Geld“, behauptet Klein, „ich zieh das an“. Ob er im Urlaub einen 50-Francs-Schein vor den Füßen eines Mannes entdeckt oder bei einer Radtour mit seiner Frau die beiden Hälften eines vom Rasenmäher zerschnittenen 50-Mark-Scheins – Klein wendet den Blick nicht von der Straße. Auch sein Glück hat er so gefunden. Als er 20 war, löste der gebürtige Niederbayer spontan einen Fahrschein nach Köln – statt wie geplant nach Nürnberg, um dort Arbeit zu suchen. Warum die Stadt am Rhein? „Wegen dem 1. FC“, gibt er vergnügt seine Anekdote zum Besten. Noch im Zug bekam er den Tipp, es bei den Klöckner-Humboldt-Deutz-Werken zu versuchen. Kaum angekommen, stellte er sich dort vor, einen Tag später unterschrieb er den Arbeitsvertrag – und blieb über 30 Jahre als Schlosser.

Wie kommt man auf die Idee, Portemonnaies zu suchen? Während der großen Entlassungswelle seines Betriebs Mitte der 90er, Klein war 52 Jahre alt, ließ er sich eine Abfindung zahlen. Seitdem ist er keiner festen Arbeit mehr nachgegangen, hat hier und da etwas dazu verdient. Irgendwann langweilten ihn die immer selben Gespräche mit den „richtigen“ Rentnern, die er täglich im Trainingslager des 1. FC traf. Er begann, mit seinem Fahrrad durch die Stadt zu streifen – und fand das erste Portemonnaie. Kurz darauf entdeckte er den neben einem Auto abgestellten Metallkoffer, für den er 100 Euro Finderlohn bekam.

Mittlerweile ist Klein eine Institution. Nach sieben Jahren kennt man sich und weiß, wer zu welcher Seite gehört. Ein schwergewichtiger Rentner radelt am Rheinufer entlang. „Na, schon was gefunden?“, fragt er. „Nein“, ruft Klein über die Schulter, „haben Sie heute schon die Zigeuner gesehen?“ Damit meint er drei Rumänen, die, wie er sagt, in einem Verschlag unter der Mülheimer Brücke schlafen. Diese Männer gehen nicht am Hauptbahnhof klauen, behauptet Klein, sondern am Bahnhof gegenüber auf der Deutzer Rheinseite. Woher er das weiß? Von der Polizei. So wie er die über seine Beobachtungen informiert, so bekommt er auch Informationen. Ein Geben und Nehmen.

Kurz darauf schlendert ein Mann mit aufgeknöpftem Hemd und goldenem Halskettchen den Radweg entlang. „Jeden Morgen seh ich den“, sagt Klein mit Nachdruck. „Das ist unter Garantie ein Zigeuner, der seine Kinder am Bahnhof klauen lässt.“ Mehrmals dreht sich der Mann nach ihm um. Dass Klein nebenher leere Flaschen einsammelt und sichtbar im Fahrradkorb stapelt, manchmal 15 bis 20 pro Tag, ist für ihn ein gutes Alibi. Das Pfand spende er meistens, sagt er.

Sein Finderstolz treibt ihn, sich täglich aufs Neue auf den Weg zu machen. „Ich fahre bei Wind und Wetter“, sagt Klein stolz. „Es passieren Sachen, da freut‘s mich richtig.“ Einem alten Mann kann er das bereits verschimmelte Portemonnaie mit einigen Visitenkarten zurück bringen. Der Alte sitzt im Rollstuhl. Er wurde beklaut, als er im Krankenhaus lag und auf Toilette ging. Klein erzählt ihm, wo er seine Sachen gefunden hat. Und was er sonst noch aufspürte.

„Da ist eins!“ Unter dem Busch liegt ein hellblaues Portemonnaie. „Das kann noch nicht lange hier sein“, triumphiert Klein, „es ist noch trocken“. Die Kreditkarten sind drin, ein alter DDR-Ausweis – nur das Geld fehlt. Als er die Börse bei einem Polizeiauto in der Innenstadt abgibt, zeigt sich die Beamtin höflich. Auch andere Rentner sammeln Portemonnaies, erzählt sie. Einmal sei eine Frau mit einer ganzen Tasche voll gekommen.

„Viele Polizisten sind faul“, kritisiert Klein. Einige Portemonnaies, die er abgegeben hat, finden erst nach Monaten zurück zum Besitzer. „Dann sind die Ausweise längst nachgemacht!“ Daraus hat Klein im Laufe der Zeit seine Lehre gezogen: Wenn möglich, die Geldbörse nie bei der Polizei abgeben, sondern direkt den Besitzer kontaktieren oder den Fund hinschicken. Hauptsache, es gibt einen Dankesbrief für die Mappe.