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Ausuferndes Zeichensystem

OUTSIDER ART Seit mehr als 20 Jahren schreibt Harald Stoffers Briefe an seine Mutter, die er nicht abschickt: eine ganz eigene Schrift-Kunst. Jetzt ist er Teil der Themenausstellung „Art and Alphabet“ in der Kunsthalle

Landschaft aus Worten und Wellen: Harald Stoffers „Brief 375“ aus dem vergangenen Jahr Foto: Foto:Harald Stoffers/Galerie der Villa

von Robert Matthies

Es ist eine ungewöhnliche Form von Schrift-Kunst, die Harald Stoffers seit mehr als zwanzig Jahren weiterentwickelt. Er schreibt Briefe, unermüdlich, fast jeden Tag einen. Nimmt sich ein griffbereites, leeres Blatt Papier und beginnt seine Arbeit meist damit, dass er einen Rahmen zeichnet. Anschließend liniert er akribisch und hochkonzentriert eine oder mehrere Zeilen – und schreibt.

Stoffers zieht wieder eine Linie, wobei er sich an der vorhergehenden mit ihren Krümmungen und Wölbungen orientiert, und schreibt Zeile für Zeile weiter, bis ein Absatz fertig ist. Oft wiederholt und variiert er die erste, tauscht Begriffe aus oder ändert den Rhythmus der Interpunktion. Manchmal zieht er dabei einen ganz besonderen Schlussstrich: Er reißt gerade geschriebene Absätze unvermittelt heraus und beginnt von Neuem. Einige seiner Arbeiten sind nur ein paar Zentimeter groß, andere füllen Wände. Die Wahl der Formate schlägt sich im Schriftbild nieder, je nachdem, ob Stoffers im Sitzen schreibt, aus dem Handgelenk, oder im Stehen.

Der gebürtige Hamburger Stoffers schreibt über alltägliche Bedürfnisse und Ereignisse, über seinen Tagesablauf und Dinge, die er erledigt hat oder die noch bevorstehen. Manchmal nimmt er Bezug auf Ereignisse, die im Moment des Schreibens passieren: „Eine Kaffee Pause Machen Wasser Aufsetzen“. Dann bekommen seine Briefe auch einen performativen Aspekt. Fast immer fangen Stoffers Briefe dabei an wie dieser: „Liebe Mutti: Ich werde: Ja Nächste Woche Dienstag also: Die Ganz Gute Neue Karierte Hose bitte anziehen morgen zu Werkstätten, Friesenweg 5 Elbewerkstätten: Gehn“.

„Im Grunde ist es eine Art Notiz- oder Tagebuch, damit er sich Dinge merken und sich auf sie konzentrieren kann. So schreibt er seine eigene Geschichte“, sagt Peter Heidenwag, der Kurator der Galerie der Villa, der künstlerische Atelier- und Projektraum des Betriebs Elbe West in Altona. Mit 40 begann Stoffers dort zu arbeiten, 2001 war das. In fast jedem seiner Briefe tauchen die Werkstätten auf.

Obwohl fast alle seiner Briefe an seine Mutter adressiert sind, hat sie nur wenige auch erhalten. Meist lässt Stoffers sie herumliegen oder gibt sie anderen. Vielleicht, sagt Heidenwag, war es nie seine Absicht, sie tatsächlich zu überbringen. Vielmehr nutze er die Form Brief als Medium zur Sammlung und Aufzeichnung seiner Gedanken: ein unabschließbares Tagebuch, das zu schreiben für Stoffers so lebenswichtig ist wie Essen, Trinken und Schlafen. Schreiben ist für Stoffers, dessen Diagnose Autismus lautet, ein Ritual, mit dem er sich selbst Raum und Zeit gibt, sein tägliches Leben strukturiert und gestaltet: indem er sich einen Zeitplan erstellt, aber auch durch den Prozess des Erstellens des Briefes selbst.

Fernab von etablierten Kunstkreisen hat Stoffers durch sein leidenschaftliches und akribisches Briefeschreiben eine ganz eigene Ästhetik entwickelt, eine formale Sprache, in der das Mitteilungsbedürfnis über den Inhalt hinausgeht. Nicht immer bleibt lesbar, was er schreibt. Immer wieder löscht er das Geschriebene aus, indem er es überschreibt, Linien und Zeichen konvergieren lässt, abbricht und die Richtung ändert.

So lädt Stoffers den grafischen Ausdruck auch emotional auf und gibt ihm eine ganz eigene Intensität. Von Weitem betrachtet muten die „Briefe“ wie eine ausufernde Notenpartitur oder entwirrter Webfaden an: ein wucherndes System von Zeichen und Wellen, von Verdichtungen und Offenem; ein Landschaftsbild aus Worten und Linien.

Nicht immer bleibt lesbar, was Stoffers schreibt. Immer wieder löscht er das Geschriebene aus

Stoffers ist längst international bekannt. Bis zu 30.000 Euro erzielten seine Arbeiten, sagt Heidenwag – eine wichtige Stütze des ganzen Projekts. „Sonst würde es uns vielleicht gar nicht mehr geben.“ Dass die im Atelier der Villa entstehende Kunst nicht nur als Ausdruck von Künstler*innen mit Behinderung, sondern als ernst zu nehmende Arbeit wahrgenommen und anerkannt wird, ist Heidenwag wichtig. Ganz bewusst arbeitet er mit verschiedenen Kurator*innen an Projekten, bei denen über Behinderung gar nicht gesprochen wird.

Um eigene Konzepte zu entwickeln und Ausstellungen zu organisieren, wurde 2010 der Verein „Mehr als zu viel“ gegründet, der im vergangenen Jahr mit dem Projekt „Mixed Company“ im Hamburger Zentrum Positionen von Künstler*innen mit und ohne Behinderungen gezeigt hat, die Vorstellungen von Gemeinschaft hinterfragen.

Ab Freitag wird Harald Stoffers nun auch in der Kunsthalle zu sehen sein, in einem Rahmen wie gemacht für seine Schriftkunst: Die groß angelegte, internationale Themenausstellung „Art and Alphabet“ untersucht mit Arbeiten von 22 Künstler*innen das Wechselverhältnis von Schrift und Bild in der Gegenwartskunst.

„Art and Alphabet“. Eröffnung: Do, 20. 7., 19 Uhr, Kunsthalle; bis 29. 10.

Infos: www.galeriedervilla.de

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