Wortwechsel
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Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor.

Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.

Bambule in Hamburg

ZUMUTUNG Der politischen Elite und den Marodeuren ohnmächtig ausgesetzt, fühlten sich taz-Leserinnen beim G20-Gipfel. Und sie stellen viele Fragen

Auftreten meist en bloc. In der Regel schwarz gekleidet Foto: reuters

Gesicht zeigen

betr.: „Der Aufstand“, taz vom 10. 7. 17

Demonstriert haben wir früher auch, mit Sprechchören, Plakaten, Reden. Immer waren da auch einige, die Angst vor Nachteilen hatten und zu Hause blieben. Was konnte einem damals passieren? Ein Eintrag in die Personalakte, eventuell.

Das Recht zu demonstrieren gibt es heute kostenlos, aber bis es so weit war, haben viele dafür bezahlt. Haben ihre Arbeit verloren und oft auch die Chance, eine neue Arbeit zu finden, es gab schwarze Listen.

Heute ist vieles anders, aber der Stolz zu demonstrieren, sein Gesicht zu zeigen, für etwas ganz persönlich einzutreten, kann doch nicht überholt sein, ist das doch die Wurzel, die unseren Protest nährt, der Wunsch nach Verbesserung. Wenn nun heute viele ihr Gesicht verhüllen, haben sie dann Angst? Angst, ihre Arbeit zu verlieren oder Nachteile zu haben? Gehört heute mehr Mut dazu, sich zu etwas zu bekennen, oder möchte man die Anonymität nutzen, um zu zerstören und zu demolieren? Welchen Sinn macht die Demonstration eines unkenntlich Gemachten (er kann ja gleich einen Stellvertreter schicken). Es war zu allen Zeiten wichtig, Verantwortung zu übernehmen, eindeutig und mutig.

URSULA LINDE, Bochum

Auf die Insel

betr.: „Der Aufstand“, taz vom 10. 7. 17

Der Hamburger Bevölkerung wurde in den vergangenen Tagen viel zugemutet und abverlangt. Dass es nun Entschädigungen für Sachbeschädigungen von Privateigentum, verursacht von marodierenden Anarchisten, geben soll, erscheint mir selbstverständlich.

Ordnungspolitisch ist dem Hamburger Senat kaum etwas vorzuwerfen, aber es ist einmal mehr verwerflich, mit wie wenig Feingefühl unser Bürgermeister mit seinen Bürgern umgeht. Es ist bedauerlich, wie wenig die Bürger/innen dieser Stadt auf den Gipfel vorbereitet und beteiligt worden sind und wie wenig Zugeständnisse es für die Bevölkerung dieser Stadt letztlich gab.

Es hätte viele Möglichkeiten gegeben: kostenlose oder ermäßigte Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, organisierte/angemessene Räume für Protestaktionen und -camps, dienstfrei für alle öffentlich Beschäftigten, Schulschließungen, vorherige Befragung der Bürger/innen …

Der Aufwand, mit dem die Gäste, unter ihnen Autokraten und Diktatoren, empfangen wurden, stehen hier in keinem Verhältnis. Die Bevölkerung wurde nicht gefragt, ob sie mit einem Treffen der G20 in ihrer Stadt überhaupt einverstanden ist.

Ich fühle mich einmal mehr ausgeliefert und ohnmächtig, gegenüber der politischen Elite, die über die Köpfe des gemeinen Volks entscheidet, und missbraucht als Statistin auf einer weltpolitischen Bühne in einem prestigegeprägten Szenario. Steine und Molotowcoctails auf Menschen werfen, werde ich deswegen nicht. Mein Tipp: Der kommende G20-Gipfel sollte besser auf einem Ozeanriesen oder einer einsamen Insel stattfinden, dann hat diese Zusammenkunft auch einen räumlich symbolisch stimmigen Charakter. TANJA MEISENBACHER, Barmbek-Süd

Animal Farm

betr.: „Der Aufstand“, taz vom 10. 7. 17

George Orwell schrieb bereits vor über 70 Jahren in seiner dystopischen Fabel „Animal Farm“: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“ Der Polizeieinsatz am vergangenen Freitag im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg hat dies weder mal bestätigt. Die Gleichen wohnten ungeschützt im Schanzenviertel, die Gleicheren saßen gut beschützt in der Elbphilharmonie.

Zu erwähnen bleibt noch, dass in der Fabel die Schweine die Gleicheren waren. UDO KÄUTNER, Gladenbach

Lass es knallen

betr.: „Der Aufstand“, taz vom 10. 7. 17

Ich bin Hamburgerin und wohne seit Jahren in der Schanze. Am Freitag musste ich per Livestream zugucken, wie mein Viertel brannte, und kann nicht begreifen, was dort passiert ist. Am klarsten sind für mich die Autonomen; die haben angekündigt, dass sie zahlreich erscheinen und eben auch mit Gewalt den Gipfel verhindern und stören wollen. Haben sie gemacht, und waren zum Glück nicht so zahlreich wie befürchtet.

Warum geht die Polizei tagelang mit harter Hand vor, verbietet Camps, löst die Demo „Welcome to Hell“ auf? Sagen, das Schlimmste wäre, wenn der Schwarze Block sich in der ganzen Stadt verteilt, und bewirken damit genau das. Um dann am Freitag nichts zu tun? Wie kann es sein, dass das Viertel stundenlang in Anarchie versinkt und nichts passiert?

Dass ein paar Autonome auf ein Baugerüst klettern und Steine runterschmeißen, war das wirklich so unerwartbar? Wieso hat die Polizei dann in der Innenstadt den Rückbau von Baustellen befohlen? Nun berichtet die taz, die Polizei habe sogar einen Schlüssel von dem besagten Haus gehabt. Der Hausbesitzer habe die Polizei vorher informiert, weil er Probleme erwartete. Polizeisprecher Zill sagt dazu, man habe im Vorfeld nicht gewusst, wo die Lage eskalieren würde und nicht jedes Haus mit einem Bauzaun sichern können. Ernsthaft? Dass die Lage am Pferdemarkt eskaliert, war nicht erwartbar? Für mich drängt sich da die Frage auf, inwieweit die Schanze hier geopfert wurde. Fein nach dem Motto: Lass es doch da knallen, dann werden wir endlich die olle Flora und die lästigen Autonomen los. Was wäre gewesen, wenn wirklich die 8.000 gewaltbereiten Linken gekommen wären und an mehreren Stellen gleichzeitig losgelegt hätten? Dann wäre die ganze Stadt in Anarchie versunken?

BARBARA KENNICH, Hamburg

Repressive Toleranz

betr.: „Hat doch mit links zu tun“, taz vom 11. 7. 17

Philipp Gessler fordert die linke Intelligenz auf, die Konfrontation mit dem Schwarzen Block zu suchen. Wir, vermummt und gewaltbereit, konfrontieren Philipp Gessler hier mal mit geballter linker Intelligenz von Herbert Marcuse: „Wenn sie [die linke Opposition] Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“ (aus „Repressive Toleranz“, 1965).

Der Schwarze Block ist kein Außen, seine Akteur*innen sind ebenso Teil der linken Intelligenz, sie tragen Hornbrille und Jutebeutel, sie studieren, harzen, arbeiten, haben Kinder. Diese vermeintlich böse Aktionsform lässt sich aus der peacigen Weltanschauung, wie Gessler sie gerne hätte, nicht aussondern und dies aus guten Gründen: Militante Suffragetten haben mit Brandanschlägen und Steinwürfen das Frauenwahlrecht erkämpft; die militanten Stonewall Riots haben die Ehe für alle auf den Weg gebracht. Immer nur Gandhi und Martin Luther King anzuführen, ist so 9.-Klasse-Geschichtsunterricht. Wie gut, dass Martin Kaul das in „Der Aufstand“ zur Sprache gebracht hat (gute Besserung, Martin!). Darauf könnte doch mal eine gute Debatte folgen zum Sinn (und eben nicht zum Unsinn) von Sachbeschädigung, Krawall und Widerstand gegen den alltäglichen Wahnsinn.

ANNA, ARTHUR, HERBY MARCUSE, Frankfurt am Main