Bert Schulz schreibt eine Stadionhymne: How long must we sing this song?
Gegenüber Bands, die ganze Stadien füllen, darf man misstrauisch sein. Schließlich gibt es Gründe, dass 50.000, manchmal sogar 100.000 Fans auf einmal diese Bands sehen und hören wollen. Und meist sind das nicht die besten Gründe: Hier trifft Mainstream auf Megakommerz.
Andererseits sind Riesenkonzerte essenzieller Teil der Popkultur. Viele sind zur Legende geworden, und Teil einer Masse zu sein ist ja auch ganz geil; erst recht, wenn die Kulisse stimmt.
Am Mittwochabend spielten U2 im Berliner Olympiastadion, eine dieser wenigen Bands, die mit jeder Stadiontournee unzählige Millionen verdienen. In besten Jahren hat sie den Mainstream erreicht und die Kritik versöhnlich gestimmt. Zuletzt – also in den vergangenen 15 Jahren – gelang ihr nur noch Ersteres. Trotzdem war das Konzert der irischen Band innerhalb weniger Stunden ausverkauft; immerhin passen 70.000 Menschen in das Stadion in Westend.
Die Gruppe um Sänger und Popmissionar Bono spielte mehr als zwei Stunden lang nur Hits und vor allem jene, die die Kritiker damals versöhnlich aufgenommen hatten. Und sie spielte ihr 1987er Album „The Joshua Tree“, mit dem sie einst in die Liga der Popsuperstars aufstiegen, komplett durch, von Lied eins bis elf. Dazu gab es überwältigende Videos auf einer 60 Meter breiten Leinwand im Hintergrund, eine ordentliche Portion politisch aufgeladenes Pathos und Regen, fast ununterbrochen. Der Stimmung konnte Letzteres nichts anhaben. Schließlich hat das Olympiastadion seit seinem Umbau vor der Fußball-WM 2006 dieses schöne Dach, das fast alle Sitzplätze trocken hält. Überhaupt ist das mit Abstand größte Berliner Sportstadion der heimliche Star dieser Megakonzerte. Es ist draußen und es fühlt sich wie drinnen an; es ist offen, aber auch kuschelig; und wenn die Handys zum Kuschelrock leuchten (Feuerzeuge sind so Neunziger), ist das ziemlich wow.
Der Umbau kann gern warten
Nicht nur bei U2. Die Synthiepopper von Depeche Mode spielten dort vor drei Wochen – ebenfalls im Regen übrigens. Und auch da glich das Stadion, in dem sonst Hertha Ball spielt, einer Kathedrale des Pop. Die Fans: selig.
Da erfreuen die Nachrichten dieser Woche, dass der von Hertha ersehnte Umbau des Stadions in eine reine Fußballarena mit tiefergelegtem Spielfeld und steileren Rängen so schnell nicht kommen wird. Was in Berlin ja heißt, dass er gar nicht kommt. Vor 2024 wäre dieses Projekt nicht erfolgreich abzuschließen, sagte am Dienstag Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD). Dann aber sollen Spiele der Fußball-EM im Stadion stattfinden, um die sich Deutschland derzeit bewirbt. Auf einer Baustelle ist das undenkbar. Überhaupt wäre der Umbau ein architektonischer und auch emotionaler Frevel, wie Megakonzerte wie das am Mittwochabend unter Beweis stellten.
Die Umbau-Debatte – Hertha droht mit einem Neubau in Brandenburg – dürfte dennoch nicht aufhören. Schlimm. Oder um es mit U2 zu sagen: „How long must we sing this song?“
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