Berliner Szenen: Spaghetti um 11
Gemeißelte Muskeln
„Ey, Alter, nicht wirklich!“ – „Wie konntest du nur!“ – „Ich will das nicht hören, Digger! Stopp!“ Als ich in die Umkleidekabine des Fitnessstudios komme, herrscht hier ein Gebrüll, als hätte gerade einer seinem Trainingspartner den Proteinshake weggetrunken. Die Schreier sind zwei Jungmänner mit Boxerschnitt und Oberkörpern, bei deren Anblick sich selbst Michelangelos Adonis überlegen sollte, ob er noch etwas an seinem Musculus pectoralis major arbeiten muss.
Im Fitnessstudio sieht man heute kaum noch die unförmigen Muskelprotze von einst. Es überwiegen gertenschlanke Leiber, bei denen einzelne Muskelpartien so ausgebildet sind, als hätte sie ein Bildhauer der späthellenistischen Periode aus einem Marmorblock herausgemeißelt.
Das bleibt natürlich nur so, wenn man immer daran arbeitet. Und das ist der Grund für das Geschrei: Der eine Muskelmann hat gestern Spaghetti mit Olivenöl gegessen! Um elf Uhr abends! Sich dazu noch ein paar Rühreier „gegönnt“. „Dann noch ein paar Tomaten und Ziegenkäse und Basilikum drübergestreut.“
Jedes neue Detail der nächtlichen Fressorgie wird von dem anderen mit angeekeltem Stöhnen quittiert. Das ganze Spektakel ist längst zu einer Performance für die ganze Umkleidekabine geworden – und ein schöner Anlass, die T-Shirts noch ein wenig länger nicht anzuziehen, damit sich die anderen an diesen Sixpacks weiden können. „Ick fress mittags nur Huhn mit Glasnudeln, aber ick verlier kein Gramm“, klagt der andere Sportsfreund, der aussieht wie der Apoll von Belvedere, aber mit Armen.
Zum Abschied gibt’s ein „High Five“ und möglicherweise die Erkenntnis, dass dieser Auftritt jetzt vielleicht doch ein bisschen viel war. „Mann, ey, wie die Weiba“, sagt der eine beim Rausgehen und kichert.
Tilman Baumgärtel
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