99 % gegen Schröder

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Was tut man nicht alles, um im Machtkampf nach der Bundestagswahl Stärke zu demonstrieren. Einzig und allein zu diesem Zweck ließ sich Angela Merkel gestern als Vorsitzende der Unionsfraktion wiederwählen.

Merkel wurde mit 98,6 Prozent der Stimmen in einem Amt bestätigt, das sie eigentlich gar nicht mehr ausüben möchte. Schließlich strebt sie an, so schnell wie möglich Kanzlerin zu werden. Dann würde sie den Fraktionsvorsitz sofort abgeben. Politik paradox? Nein, Politik, aus der Not geboren. Nach ihrem miserablen Abschneiden bei den deutschen Wählern brauchte Merkel dringend eine Rückenstärkung durch die eigenen Leute. Dass Merkel zur Wiederwahl als Fraktionschefin antrat, war sozusagen der Versuch, die überdurchschnittliche Lebenserwartung von Totgesagten statistisch zu beweisen.

„Damit hat die CDU/CSU den Führungsanspruch und den Weg zur Kanzlerschaft von Angela Merkel unterstrichen“, erklärte ihr Fraktionsvize und CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, nachdem 219 von 222 Abgeordneten mit Ja votiert hatten. Merkel freute sich über „das eindrucksvolle Votum“.

Eindruck machen soll es vor allem einem: Gerhard Schröder. Dessen Machtanspruch zu dämpfen, war das Ziel, hinter dem sich (fast) alle Unionsabgeordneten versammeln konnten – eigene Zweifel und Kritik an Merkel hin oder her. Zu einer Aussprache in der Fraktion kam es vorsichtshalber gar nicht erst. Stattdessen erklärten Merkel, Glos und CSU-Chef Edmund Stoiber kurz, worum es ging. „Wir brauchen eine starke Verhandlungsführerin für die Union“, rief Stoiber hinter verschlossenen Türen. Als „gute Verhandlungsbasis“ für die anstehenden Koalitionsverhandlungen brauche man ein „gutes Ergebnis“. Glos erklärte den Abgeordneten, wenn sie Frust schöben, sollten sie diesen an ihm auslassen und nicht an Merkel. Zur weiteren Motivation berichtete er von dem Wahlergebnis, das SPD-Fraktionschef Franz Müntefering im Sitzungssaal nebenan erreicht hatte. Dieses gelte es zu übertreffen, machte Glos damit indirekt klar. Es ist gelungen.

Merkels selbst gab sich intern kämpferisch. Der Sonntagabend habe der Union „einen Kampfauftrag“ hinterlassen, sagte die geschwächte Chefin. Über Schröder sagte sie unter großem Beifall, „dieser Mann“ müsse „verstehen“, dass er nicht mehr Kanzler bleiben könne.

Die Abgeordneten hatten verstanden. Jede Stimme für Merkel zählte – gegen Schröder und die SPD. Da wollte (fast) niemand Verrat üben. Unionspolitiker, die Merkel eigentlich keine Kanzlerschaft mehr zutrauen oder gönnen, gingen mit ihrem Ja allerdings ein gewisses Risiko ein: dass Merkel ihre Position nun wieder festigt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie unterschätzt wurde.

Vor Glos hatten auch führende Landespolitiker von CDU und CSU den Anspruch der Union auf Bildung einer Regierung unter Merkels Führung bekräftigt. Dabei wurde gestern erstmals auch der Gedanke einer von den Grünen tolerierten schwarz-gelben Minderheitsregierung ins Gespräch gebracht.

Nach Ansicht des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Christoph Böhr wird die Entwicklung „möglicherweise schon ganz bald“ darauf hinauslaufen, dass sich Merkel ohne vorherige Koalitionsvereinbarung im Bundestag zur Wahl stellt und dann möglicherweise mit Stimmen von FDP und Grünen im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt wird. Das müsse dann nicht zwingend eine Minderheitsregierung sein, sagte Böhr im Deutschlandfunk. Wenn die Grünen zur Wahl Merkels bereit wären, dann wäre das „eine Offerte auch an uns, über mehr Gemeinsamkeiten nachzudenken“. Eine große Koalition mit Schröder als Bundeskanzler tat Böhr als „Treppenwitz“ ab.

Merkel will sich noch diese Woche mit FDP, SPD und Grünen zu Sondierungen treffen. Morgen will sie zuerst mit SPD-Chef Müntefering sprechen.