„Hier herrscht Goldgräberstimmung“

BOHEME Im Café Oberholz in Mitte hat die digitale Boheme gearbeitet. Betreiber Ansgar Oberholz beschreibt, wie sich das Publikum verändert hat: Die Neuen arbeiten schneller und rund um die Uhr

■ 39, gründete mit seiner Geschäftspartnerin Koulla Louca 2005 das Café Sankt Oberholz in Mitte, das bald als Zentrum der digitalen Boheme gehandelt wurde. Heute kann man dort auch Co-Working-Spaces und Apartments anmieten.

taz: Herr Oberholz, Sie hatten Ihr Café Sankt Oberholz 2005 kaum gegründet, da wurde es schon zum Zentrum der digitalen Boheme – jener neuen, prekären Klasse, die vor allem in Cafés gearbeitet hat, ohne Festanstellung, aber mit Internet. Warum?

Ansgar Oberholz: Wir wollten eine Mischung aus Café, Büro und Bibliothek. Wir haben an jedem Tisch Steckdosen angebracht und als einer der ersten Orte kostenloses WLAN angeboten. Wir haben allerdings nie gedacht, dass das so heftig ankommen würde.

Was hat den bohemistischen Lebensstil ausgemacht?

Er zeichnete sich durch wenige Verpflichtungen und viele Freiheiten aus. Es gab aber auch Zumutungen: Man kann eine Wohnung mit Kohleofen, in der man sich im Winter den Arsch abfriert, eben nur eine kurze Zeit lang verklären.

Wie haben sich Ihre Gäste in letzter Zeit verändert?

Am Anfang haben hier vor allem Freelancer gearbeitet, die Projekte machten, so dass für zwei Monate die Miete drin war. Diese Leute gehen heute auf die vierzig zu. Die neue Generation ist höchstens Ende zwanzig und viel internationaler. Es ist eine Goldgräberstimmung, jeder muss seine Claims abstecken, wirklich wie im Wilden Westen. Diese Leute suchen nach Investoren.

Kann man ihnen das verdenken?

Ich finde es gut, dass diese Leute hoffen, ein großes Unternehmen aufbauen zu können. Sie wollen ein großes Stück vom Kuchen.

Worin unterscheiden sich diese neuen Leute im Auftreten von der Boheme?

Sie fangen morgens früher an zu arbeiten, sie sind pragmatischer und noch schneller. Früher hat man versucht, mit Mühe und Not die Deadline zu halten und vielleicht mal eine Nacht davor durchgearbeitet. Heute gibt es keine Deadlines mehr. Die Start-up-Leute wissen nur, dass sie um jeden Preis die Ersten sein müssen. Das heißt: Sie müssen schnell sein, haben mehr Druck, überfordern sich viel mehr.

Wie nutzen sie das Oberholz?

Es gibt Gäste, die beschreiben das Oberholz als Wellness, weil sie dann wenigstens mal rauskommen. Es gab auch schon welche, die haben in ihren Lebenslauf geschrieben, dass sie eine Zeit lang im Oberholz abgehangen haben.

Wirklich?

Ich würde so jemanden viel eher einstellen als jemanden, der durch all diese neuen Raster gegangen ist: Man macht sein Abitur nach der zwölften Klasse mit 17. Dann geht es an eine Uni, die total verschult ist. Seinen Bachelor hat man mit 19. Das ist doch Schwachsinn!

Das klingt, als würden Sie die digitale Boheme schon vermissen?

Lassen Sie mich das an meiner Biografie erklären: Ich habe selbst lange bohemistisch gelebt, habe Naturwissenschaften studiert, ein bisschen in Philosophie reingeschnuppert. Dann habe ich alles hingeschmissen und wollte Musiker werden. Als ich Vater wurde, war es erst mal vorbei mit meinem bohemistischen Leben. Bis zur Eröffnung des Sankt Oberholz. Da ging es wieder von vorn los mit der finanziellen Unsicherheit. Ohne das alles hätte ich es aber nie geschafft, das Café aufzubauen. Solche Biografien braucht es.

Wie würden Sie sich heute selbst beschreiben? Als Establishment?

Wir können nicht klagen. Ich gebe gern zu, dass wir seit einem Jahr gut vom Oberholz leben können. Allerdings habe ich sehr viele Freunde, die sich seit Jahren selbst ausbeuten, bei denen sich die Freiheit immer noch nicht gut anfühlt. Unsicherheit und Angst fressen jede Kreativität.

Haben Sie hin und wieder Sehnsucht nach dem Angestelltenland – jener Art zu arbeiten, die die Boheme so tödlich fand?

Früher hatte ich immer so eine seltsame Sehnsucht, wenn ich einem Müllmann oder einem Taxifahrer begegnet bin. Ich sehnte mich nach einem kleinen Leben, in dem man gar nicht überlegen muss, ob einen das, was man tut, erfüllt oder nicht.

Ist dieser Drang zur Selbstverwirklichung auch ein Fluch?

Sie ist ein Diktat. Man sieht es auch am Oberholz: Uns fällt es von Jahr zu Jahr schwerer, Küchenhilfen zu finden. Die Leute wollen solche Sachen nicht mehr machen.

Woher kommt diese Forderung, dass Arbeit und Leben dasselbe zu sein haben?

Dass man sich heute unbedingt selbst verwirklichen muss, ist definitiv die Schuld der Hippies. Ich denke, wir sollten uns entspannen. INTERVIEW: SUSANNE MESSMER

■ Am Montag erscheint Oberholz’erster Roman „Für hier oder zum Mitnehmen“, der von der Anfangszeit des Cafés inspiriert ist. Ullstein Verlag, 240 Seiten, 14,99 Euro