Amerika verstehen

FAZIT Der frühere Kennedy-Berater Norman Birnbaum fordert, dass Obama jetzt kämpferische Stärke zeigt

Es wäre absurd, die Zwänge nicht sehen zu wollen, die es dem Präsidenten schwermachen werden zu handeln

AUS WASHINGTON NORMAN BIRNBAUM

Die Helden und Heldinnen vom 6. November sind die, die stundenlang auch bei schlechtem Wetter vor den Wahllokalen in den USA ausharrten. So trotzten sie dem Versuch, mögliche Unterstützer der Demokraten davon abzuhalten, ihre Stimme abzugeben – einem Versuch, den es vor allem in Bundesstaaten gab, die von Republikanern geführt wurden. Die Schikane bestärkte die Gegner Romneys noch darin zu zeigen, dass sie mit ihrer Stimmabgabe die Arroganz der Republikaner nicht akzeptieren wollen. Romney hatte 47 Prozent seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen als unverantwortlich und parasitär bezeichnet.

Klugheit und politischer Realitätssinn haben den Präsidenten Obama zu seinem Sieg geführt. Am Abend vor der Wahl verglich er die Nation mit einer Familie. Er betonte dabei nicht, dass in Familien oft gestritten wird und dass unsere nationale Familie also in sich zerrissen ist. Dass sie nicht bereit ist, Besitz und Einkommen zu teilen. Dass sie von Neureichen dominiert wird, die in Panik geraten bei dem Gedanken, dass sie wirtschaftlich oder sozial verlieren könnten. Der Präsident hat eher wie ein Therapeut gesprochen, der den Patienten (also uns, die Öffentlichkeit) nicht schockieren darf, indem er ihm zu schnell zu viel Einsicht zumutet. Er baute mehr darauf, dass seine UnterstützerInnen ihn mochten, ihm vertrauten, als darauf, mit klaren wirtschaftlichen und sozialen Projekten zu punkten. Seine stetige Wiederholung, dass er die „Mittelklasse“ verteidigen werde, ist eine Übung in soziologischem Obskurantismus. Die Mittelklasse beginne, wurde in einem Film aus den fünfziger Jahren mal gesagt, bei denen, die gerade mal keine Essenmarken mehr benötigten, und höre bei denen auf, die sich gerade mal noch keinen Privatjet leisten können. Der Präsident kann das unmöglich als soziale und ökonomische Analyse ernst gemeint haben. Aber er benutzte es, um zu zeigen, dass ihm ein angemessenes Maß an Gleichheit und Fairness wichtig ist. Wie angemessen auch immer, es hat für ihn funktioniert, zumal er auch Gegner hatte, die gern den Sozialdarwinismus einführen würden, wenn man sie ließe.

Klassenkampf bei den Republikanern

Die Republikaner hingegen könnten nach dieser Wahl nun gezwungen sein, sich mit der inneren Zerrissenheit in ihrer eigenen Parteifamilie auseinanderzusetzen. Dies, obwohl sie immer noch die Mehrheit im Repräsentantenhaus halten. Die Zerrissenheit in der Partei basiert darauf, dass reiche Unternehmer und Manager, kleine Geschäftsinhaber und abhängig Beschäftigte einfach unterschiedliche Interessen haben, weil sie unterschiedlichen Klassen angehören.

Hinzu kommen aber auch noch kulturelle Unterschiede sowie Konflikte zwischen Verfechtern der Trennung von Kirche und Staat mit bibeltreuen Christen. In außenpolitischen Fragen sind die Konfrontationslinien ebenfalls stark. Da treffen chauvinistische Unilateralisten, die alles im Alleingang entscheiden wollen, auf Realisten, die in der Tradition von Nixon und Kissinger stehen (und sich dadurch auszeichnen, dass sie, wenn sie anderen Ignoranz und Dummheit vorwerfen, dies in so überladene Sätze packen, dass die Angesprochenen es tatsächlich auch nicht verstehen). Vor allem aber die Verluste der Republikaner bei Latinos, bei Frauen und bei den jungen Leuten haben dazu geführt, dass zukünftige Präsidentschaftskandidaten mittlerweile laut fragen, ob eine Partei von alten weißen Männern noch überleben kann.

Einer der bemerkenswertesten Aspekte von Romneys Wahlkampagne war die öffentliche Erklärung seiner Freunde, dass Romneys Zugeständnisse an die eher primitiven Republikaner nicht ernst gemeint seien.

Jetzt, da Romney weg ist, bleiben ein paar hundert politische Fundamentalisten der Republikaner im Abgeordnetenhaus und etwa dreißig im Senat.

Schockiert von Obamas Sieg und dem erneut mehrheitlich demokratischen Senat sowie einigen Erfolgen der Demokraten bei staatlichen Gesetzgebungen, über die auch abgestimmt wurde, bezeichnete ein Republikaner diese Wahl als größten Sieg der amerikanischen Linken seit 1936. Damals erhielt Franklin Roosevelt 63 Prozent der Stimmen und eine große Mehrheit im Kongress. Der Vergleich ist übertrieben, aber der Sieg der Demokraten ist dennoch gewaltig. Obama hat die Stimmen der Frauen bekommen, die Stimmen der jungen Leute und große Stimmanteile unter den Latinos und Afroamerikanern. Ungefähr 70 Prozent der Wahlberechtigten sind jedoch weiß. Etwa 40 Prozent von ihnen stimmte für Obama. Alles zusammen reichte für einen knappen Sieg.

Das amerikanische Wahlsystem zwingt den Präsidenten, sich im Wahlkampf auf jene US-Bundesstaaten zu konzentrieren, deren Stimmen er zusätzlich braucht – zusätzlich zu denen, die ihm ohnehin sicher sind. Nur so kann er im Wahlmänner-Gremium die Mehrheit erringen. Obamas Wahlberater waren seit 2008, vor allem aber seit 2010, als die Demokraten die Mehrheit im Kongress verloren, in allen Bundesstaaten aktiv. Sie haben Anhänger kontaktiert, haben Freiwillige geschult, haben sowohl das Internet als auch Vorortgruppen genutzt, um soziale Netzwerke aufzubauen. Verbunden war das alles mit steten Fundraising-Kampagnen, und zwar solchen, die auch kleine Beträge willkommen hießen. Und viele kleine Beträge bekamen sie auch. Obama setzte in seinem Wahlkampf auf Kräfte, die schon da waren: Gewerkschaften, Umwelt-, Bildungs- und GesundheitsaktivistInnen. Zivilgesellschaftlich orientierte Leute, ethnische, feministische, antirassistische und auch religiöse Gruppen gehörten ebenfalls zu den Unterstützern. Eine eigene Massenbewegung indes ist dabei nicht entstanden. Die Organisation blieb immer unter der Kontrolle des Weißen Hauses – auch wenn lokale demokratische Parteiverbände die Arbeit ausführten. Vielleicht wird sich daraus zukünftig eine eigene politische und soziale Bewegung entwickeln, die sich auch mit lokalen Occupy-Gruppen vernetzt. Im Moment ist das aber eher unwahrscheinlich.

Demokraten neutralisieren republikanisches Geld

Was das Netzwerk rund um Obama aber geschafft hat: Es hat das Geld, das Republikaner in den Wahlkampf pumpten, neutralisiert. In Romneys Kampagne wurde mehr als eine Milliarde US-Dollar investiert. (Hinzu kommen hohe Beträge für die Kampagnen zu den Kongresswahlen.) Gespendet wurde das Geld von Leuten, die gegen Obamas Projekte sind, mit denen er den Finanzsektor regulieren möchte. Genau wie der Versuch der Republikaner, Wähler an der Stimmabgabe zu hindern, hat auch diese dreiste Einflussnahme auf den Wahlprozess mit so viel Geld eher zu einer Gegenreaktion geführt.

Das Unterstützungsnetzwerk von Obama konzentrierte sich auf die Wahlkampagne rund um den Präsidenten. Auf die Kongresswahlen wurde es nicht ausgeweitet. Das mag mit ein Grund sein, warum die Demokraten nicht die Mehrheit in beiden Häusern, dem Senat und Repräsentantenhaus, bekamen. Hinzu kommt, dass die Mehrheit, die die Demokraten im Senat nach der Wahl haben, schwach ist, denn bei vielen Vorhaben müssten sie drei Fünftel der Abgeordneten hinter sich haben, damit sie durchkommen. Eine Sperrminorität im Senat kann also die Regierung lähmen.

Genau dies ist in den letzten zwei Jahren geschehen. Die Republikaner haben jedes Regierungshandeln blockiert. Das totale finanzielle Desaster konnte nur deshalb vermieden werden, weil man sich auf eine Vereinbarung einließ, die ab Januar erhebliche Budgetkürzungen und hohe Steuererhöhungen auf normale Einkommen vorschreibt, sofern der Präsident und der Kongress sich nicht auf einen Etat verständigen können. Dieses Programm würde zu einem sofortigen wirtschaftlichen Einbruch führen.

Der Präsident stellte die Rolle der Bundesregierung während des Wahlkampfs positiver dar als in der Zeit davor. Er verteidigte den amerikanischen Wohlfahrtsstaat und betonte die positive Rolle der Regierung bei der Regulierung und Stimulierung der Wirtschaft. Würde er wieder eine technokratisch-vorsichtige Haltung einnehmen wie in langen Phasen der ersten vier Jahre seiner Regierungszeit, würde er damit das ohnehin vorherrschende Klima der sozialen und ökonomischen Unsicherheit verstärken. Genau dieses Unsicherheitsklima hat aber auch all den Hass und die Feindschaft geschürt, die manche gegen Obama hegen. Um seine Verhandlungsposition den Republikanern gegenüber zu stärken, muss er kämpferisch bleiben. Denn es gibt genug, um das kämpferisch gerungen werden muss.

Die Verwüstungen, die der Sturm „Sandy“ hinterließen, waren ein Zeichen. Der Präsident weiß sehr genau, dass die Klima- und Umweltprobleme regelmäßig weitere Sandys verursachen können. Er hat nicht die großen Lösungen gefordert, die in Umweltfragen notwendig sind. Ähnlich zurückhaltend agierte er außenpolitisch. Seine größten Erfolge dort sind das, was er nicht gemacht hat. Mit anerkennenswerter Sturheit und ausgleichender Doppelzüngigkeit hat er dem Druck von Israel und seinen Fürsprechern in den USA widerstanden, den Iran anzugreifen. Der Präsident hat allerdings auch nichts unternommen, um die veränderte wirtschaftliche und politische Weltlage öffentlich zu propagieren. Stattdessen hat er dem „Krieg gegen Terror“ zugestimmt und uns so in eine permanente Konfrontation mit den islamischen Ländern getrieben. Es gibt eine gewisse Gefahr, dass uns dasselbe mit China passieren wird.

Der Präsident muss die politischen Ressourcen finden, die es ihm ermöglichen, große Veränderungen in die Wege zu leiten – inklusive der längst fälligen Reform des Einwanderungsrechts.

Es wäre absurd, die Zwänge nicht sehen zu wollen, die es dem Präsidenten schwermachen werden zu handeln. Aber es wäre ebenso absurd, nicht sehen zu wollen, dass dieser Sieg ein einzigartiger, historischer Durchbruch ist. Jetzt kämpft er mit sich selbst.

Übersetzung: Waltraud Schwab

Norman Birnbaum wurde 1926 in New York geboren, lehrte als Professor für Soziologie an der Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kennedy. Er war Mitbegründer der New Left Review und arbeitet heute unter anderem für die Wochenzeitschrift The Nation