Die Sache mit der Toleranz

LANGMUT Am 16. November ist Tag der Toleranz. Das ist die Gelegenheit, über ein Wort nachzudenken, das eine Kampfansage an sich selbst ist

■ Der Hintergrund: Am 16. November 1995 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Unesco die Erklärung der Prinzipien zur Toleranz. Darin heißt es in Artikel 1.1: „Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. […] Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.“

■ Der Tag: In Artikel 6 proklamierten sie den Internationalen Tag der Toleranz. Seither wird am 16. November an ein würdevolles Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen erinnert. Der Tag soll ein Problembewusstsein in der Öffentlichkeit wecken.

VON JASMIN KALARICKAL

Ein Tag der Toleranz ist ein bisschen wie der Karneval der Kulturen in Berlin: Man verkleidet sich, trinkt schlechten Caipirinha und freut sich über die Sambatänzerinnen mit den schönen Popos, freut sich darüber, wie bunt und vielfältig die Welt ist. Kein Gedanke an Klischees wird verschwendet, nein, nein, man feiert und umarmt sich. „Nastrovje“ statt „Prost“. Am Ende liegt ein Haufen Müll auf der Straße. Es reicht, sich am nächsten Tag darüber zu ärgern, genauso wie über den Fuselwodka. Und man kann gekonnt auch wieder alle ignorieren, die man gestern noch geküsst hat.

Das Wort Toleranz ist schneller gesagt als gedacht. Es wird inflationär verwendet, es ist vermutlich ein Wort, das Grüne, SPD, FDP und CDU/CSU in einem Konsens bejahen würden. Gibt man es in die Suchmaschine im Internet ein, erhält man über zehn Millionen Treffer. Toleranz ist ein Wort, das oft Hand in Hand mit anderen geht: Demokratie, Vielfalt, Freiheit. Mit diesen Begleitworten, wird die positive Bedeutung betont, denn ursprünglich bedeutete das Wort, das dem lateinischen Verb tolerare entlehnt ist: dulden und ertragen. Toleranz, also, macht eigentlich keinen Spaß.

Eine tolerante Haltung setzt voraus, dass es vorher einen Konflikt gab. Es bedeutet: gegen die eigene Auffassung eine andere Auffassung bestehen zu lassen. Es speist sich aus einer wortimmanenten Paradoxie: es lehnt ab und nimmt dennoch an. Wenn jemand in der U-Bahn sitzt und offensichtlich der Meinung ist, dass Seife den PH-Wert der Haut zerstört, dann toleriert man das. Genauso wie Tennissocken in Sandalen. Es ist eine Abwägung, inwieweit das, was man toleriert, einen selbst betrifft und was man theoretisch dagegen tun könnte. Also toleriert man es auch, als schwarzer Mensch in der tiefsten Provinz angeguckt zu werden wie ein Affe im Zoo. Toleranz ist gewissermaßen die „große Koalition“ unter den Wörtern, ein Kompromiss aufgrund fehlender Machtoptionen.

Durch Migration wird Deutschland immer diverser, individueller, schräger – das erfordert Toleranz, es geht um gesellschaftliches Miteinander. Deshalb sind unsere Grundrechte auch geprägt vom Gedanken der Toleranz. Das Recht der Religionsfreiheit zum Beispiel beinhaltet nicht nur die Freiheit, zwischen einem oder mehreren Göttern wählen zu können, sondern auch die Freiheit, Atheist oder Esoteriker zu sein. Das ist schön, weil es einerseits dem Dogmatismus der Religionen entgegenwirkt, und anderseits, weil es eine gewisse Narrenfreiheit garantiert. Toleranz in Deutschland bedeutet, dass man Muslimen erlaubt, sich eine Moschee zu bauen und gleichzeitig den Protest gegen die Höhe des Minaretts akzeptiert. Ist das Ende der Toleranz mit der Städtebauordnung erreicht? Toleranz ist das eine, Akzeptanz das andere.

Die Grenzen der Toleranz sind beliebig. Das Gegenteil von Toleranz ist Intoleranz – aber dieser Begriff ist so negativ behaftet, dass man lieber sagt, man habe „null Toleranz“ gegenüber Nazis als dass man von sich selbst sagt, man wäre intolerant. Warum muss man die NPD als demokratisch gewählte Partei tolerieren, sie mit Steuergeldern unterstützen, obwohl ihre Inhalte den eigenen Überzeugungen diametral entgegenstehen?

Toleranz ist ein Dogma unserer Zeit, eine Kampfansage an sich selbst. Cicero verwendete den Begriff tolerantia erstmals 46 vor Christus, er beschrieb Toleranz als Tugend, als das geduldige Ertragen des eigenen Schicksals. Es ist das, was wir heute als Frustrationstoleranz bezeichnen. Jeden Tag aufstehen, obwohl man müde ist, Müll raustragen, dem Nachbarn beim Sex zuhören. Eine Fähigkeit der Selbstbeherrschung, ein Aushalten, das von innerer Stärke zeugt.

Also toleriert man es auch, als schwarzer Mensch in der tiefsten Provinz angeguckt zu werden wie ein Affe im Zoo

Die braucht man auch, wenn man zu denen gehört, die geduldet werden. Die Toleranzidee in Europa beschrieb zunächst die Großzügigkeit der christlichen Religion, sie sollte nach den Glaubenskriegen auch zwischen den christlichen Konfessionen Frieden stiften. Es war das Dulden von Andersgläubigen. Diese konnten froh sein darüber.

In der Aufklärung erlebte die Toleranz dann ihre Hochzeit. Voltaire schrieb ein Loblied auf die Toleranz, Lessings Drama „Nathan der Weise“ gilt bis heute als Ringparabel aufklärerischer Toleranz. Es ging über das Religiöse hinaus, es ging um absolute Glaubens- und Gewissensfreiheit. Das alles war fortschrittlich, ja, avantgardistisch damals. Nicht zu vergessen: Friedrich II., 1740, „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“. Aber während heute alle den Preußenkönig für seine angebliche Toleranz feiern, stehen alle Deppen auf der Matte und schreien „Nein!“, wenn der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff davon spricht, dass der Islam zu Deutschland gehört. Über den ganzen Protest blieb die Tatsache unbeachtet, mit welch herablassendem, paternalistischem Gestus das von Wulff kam. Es war das, was Kant in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ meinte, wenn er vom „hochmüthigen Namen der Toleranz“ sprach.

Aus dieser Perspektive ist Toleranz eine Zumutung. Toleranz kann nicht an einem Tag zelebriert werden, der Alltag ist kein Karneval. Völlig zu Recht können Minderheiten den Gedanken der Toleranz zurückweisen. Wer will schon von der Großzügigkeit der Mehrheit abhängig sein: Sei es bei der Frage nach der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Debatte über Beschneidung, bei der Gewährung von Asyl. Wer oder was toleriert wird, wird immer durch den Stärkeren bestimmt. Es geht um Normen, um die Frage des vermeintlich „Anderen“. Es geht um Macht. Goethe schrieb: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“