Türkei

Die Opposition gegen Präsident Erdoğan schien erledigt zu sein. Das hat sich seit diesem Sonntag geändert

Der Bürokrat, der zum Volkshelden wird

Opposition Lange galt der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu als eine Fehlbesetzung. Jetzt kann er Erdoğan Paroli bieten

Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP Foto: O. Orsal/reuters

ISTANBUL taz | Kemal Kılıç­da­roğlu ist eigentlich ein zurückhaltender Mensch. Im Gespräch ist er höflich, er drängt sich nicht in den Vordergrund, und wenn er eine „feurige Rede“ an eine größere Menge hält, hat man schnell das Gefühl, das das nicht sehr authentisch klingt, so, als sei es gar nicht Kılıçdaroğlu, der spricht. Lange wurde der Oppositionsführer deshalb in der türkischen Öffentlichkeit als ein Möchtegernpolitiker verspottet. Die einen nannten ihn nur „Onkel Kemal“, wer ihm wohlgesinnter war, sprach ob seines Aussehens und seiner Milde vom „Gandhi“ der Türkei.

Bis Kemal Kılıçdaroğlu am 15. Juni seinen Marsch auf Istanbul begann, waren sich fast alle einig, dass er als Oppositionsführer gegen den rücksichtslosen Machtpolitiker Recep Tayyip Erdoğan eine Fehlbesetzung ist. Integer, bescheiden und unbestechlich, aber viel zu weich, um dem aggressiven Erdoğan wirklich etwas entgegenzusetzen.

Geboren wurde Kılıçdaroğlu am 17. Dezember 1948. Er ist seit Jahrzehnten verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Sein beruflicher Werdegang sprach gegen eine erfolgreiche politische Karriere. Der Mann ist von Haus aus Bürokrat. Er studierte Verwaltungswissenschaft, arbeitete im Rechnungswesen des Finanzministeriums und wurde schließlich Generaldirektor der staatlichen Krankenversicherung.

Allerdings gibt es in seiner Herkunft auch widerständige Elemente. Kılıçdaroğlus alevitische Familie stammt aus Dersim, einer Bergregion im Osten des Landes, die schon zu osmanischen Zeiten als Aufstandsgebiet galt. Die Aleviten sind eine seit Jahrhunderten unterdrückte Minderheit.

Bislang hat man bei Kılıç­daroğlu, der im Mai 2010 den Vorsitz der sozialdemokratisch-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) übernommen hatte, nachdem er zuvor seit 2002 als Abgeordneter ins Parlament eingezogen war, von dessen widerständiger Tradition nicht viel bemerkt. Er konnte die Partei zwar bei rund 25 Prozent der Wählerstimmen stabilisieren, aber mehr war nicht drin. Aus seinem etatistischen Staatsverständnis heraus stellte er sich nach dem Putschversuch im letzten Juli an Erdoğans Seite und ging selbst, trotz heftiger Kritik in seiner Partei, zu Erdoğans Siegesfeier Anfang August 2016 und hielt dort vor einer Million Erdoğan-Anhänger eine Rede. Zuvor hatte er seine Partei dazu veranlasst, im Parlament für die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten zu stimmen, weil er Angst hatte, die CHP könnte sonst als Terrorunterstützerin denunziert werden. Damit ließ er die kurdisch-linke HDP allein und tat nichts, als deren Vorsitzenden verhaftet wurden.

Er hat lange gebraucht, doch mit seinem „Marsch für Gerechtigkeit“ hat Kılıçdaroğlu nun endlich eine ihm gemäße Protestform gefunden. Völlig legal, völlig friedlich und deshalb nur schwer angreifbar. Der anfängliche Spott ist Erdoğan im Hals stecken geblieben, als er sehen musste, wie immer mehr Menschen sich Kılıçdaroğlu anschlossen und noch viel mehr ihm zu Hause aus recht gaben. Mit dem Marsch ist Kılıçdaroğlu zum Politiker gereift, der Erdoğan ernsthaft Paroli bieten kann. Jürgen Gottschlich