Manchmal ist der Weg nach Wilhelmsburg weit, zu G20 ist das aber eine gesunde Distanz zur Innenstadt
: Schlafen ohne Rotorengetöse

Foto: privat

Inselstatus Leyla Yenirce

Liebe Insel, du bist die Stadt in der Stadt. Umgeben von Elbwasser, das uns Inselbewohner von der „anderen Seite“ trennt. Die Seite, die in den vergangenen Tagen voller Polizei und herrschenden Menschen war, die es zu vermeiden gilt. Aber du liebe Insel, fernab von Wasserwerfern und Messegeländen, warst unsere Ruheoase. Während andere die Stadt verließen, zogen wir Insulaner*innen uns zurück in unsere Nachbarschaft, wo die Läden nicht mit Brettern behangen sind oder mit einem No-G20-Schild, die Solidarität vortäuschen sollen, um nicht Zielscheibe der Anti-Kapitalist*innen zu werden.

Immer wenn andere Menschen mir sagten, hier sei es zu weit weg vom Zentrum, weiß ich spätestens nach diesem Wochenende, dass wir hier tatsächlich weit weg sind, aber nicht von der Stadt an sich, sondern von dem vielen Bullshit und Chaos der vergangenen Tage dort.

Soll mir noch ein Mal jemand sagen, der Weg vom Hauptbahnhof ins Reiherstiegsviertel sei so umständlich, weil man ja doch immer noch den 13er-Bus von der S-Bahn Veddel nehmen müsse. Dem werde ich von diesem Wochenende erzählen. All die St. Pauli- und Schanzen-Bewohner*innen, die nicht schlafen konnten, weil Hubschrauber über ihren Wohnungen kreisten, während ich mich tief schlummernd vom Protest erholte.

Ja, sie haben uns den alten Elbtunnel versperrt, aber die fünfzehn Minuten mehr Fahrt über die Elbbrücken zur anderen Elbseite, waren es doch wert. Denn wann immer wir uns vom Kriegsschauplatz entfernen wollten, konnten wir einfach nach Hause fahren. Wir haben hier zwar mit unseren eigenen Probleme zu kämpfen, wie zum Beispiel die immer noch auf freien Fuße laufenden Sexualstraftäter, die Ende Mai und Anfang Juni junge Frauen angriffen und mir immer noch große Kopfschmerzen bereiten, aber wenigstens müssen wir uns nicht noch zusätzlich mit dem auseinandersetzen, was sich im beliebtesten Wohnviertel der Stadt zutrug. Die Polizei ist hier ja schließlich auch präsent, aber nicht ohne Kontrolle und übermäßig repressiv.

Ich habe G20 überlebt und du, liebe Insel, hast deinen Teil dazu beigetragen. Und wenn ich das nächste Mal im strömenden Regen auf meinem Rad noch zwanzig Minuten frieren muss, bis ich es endlich über die Argentinienbrücke und den Vogelhüttendeich runter ins Viertel geschafft habe, werde ich daran denken, wie du uns während des Gipfels beschützt hast, weil wir uns als Wilhelmsburger*innen hier bewusst und unbewusst raushalten konnten. Dann werde ich nicht meckern, sondern die zwei Seiten der Medaille anerkennen, die ein Wohnort mit günstigen Mieten besitzt, der nicht zehn Minuten vom Hauptbahnhof entfernt ist, sondern vielleicht zwanzig oder dreißig weg vom Gipfel des Wahnsinns, der uns alle so viele Nerven gekostet hat. Danke Insel, dieses Mal auf dich!

Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus Wilhelmsburg über Spießer, Linke, Gentrifizierer und den urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.