Minifilmland sucht Messias

Estland hat viele Felder und Sümpfe, zwölf Kinos und äußerst schmale Filmförderbudgets. Es gibt circa drei estnische Spielfilme pro Jahr – darunter aber so tolle wie die Animationen von Priit Pärn. Heute beginnt im Kino Arsenal zum ersten Mal das sechstägige „Baltic Film Festival – Focus Estland“

VON DAVID DENK

Über schier endlose Schotterpisten führt der Weg tief hinein in die Finsternis, scheinbar direkt in deren Herz. Schon kurz hinter Tallinn hat die Fahrerin der Filmproduktion das Fernlicht eingeschaltet und nicht wieder ausgemacht. Die Scheinwerfer tauchen das vorbeirauschende ewige Dreierlei aus Kiefern, Birken und Feldern in fahles Licht. Kein Mensch, kein Tier, kein Gegenverkehr, kaum Häuser, geschweige denn Siedlungen. Willkommen in Estland!

Die estnische Bevölkerungsdichte gehört mit 30 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den niedrigsten der Welt: Auf einer Fläche von etwas weniger als der Niedersachsens leben nur 1,36 Millionen Menschen, ein Drittel davon in der Hauptstadt Tallinn an der Nordküste. In ganz Estland gibt es gerade mal zwölf regelmäßig geöffnete Kinos.

Nach 70 Minuten Fahrtzeit ist aus den Schotterpisten nach unzähligen Abzweigen längst ein Waldweg geworden. Plötzlich: Licht! Taghell leuchtet es durch die Bäume. Menschen! Autos! Scheinwerfer! Hier draußen, in einem Sumpfgebiet nordwestlich der estnischen Hauptstadt, werden Teile des Kung-Fu-Films „Jade Warrior“ gedreht, der im Oktober 2006 in die Kinos kommen soll. Die Story speist sich aus chinesischer und finnischer Mythologie gleichermaßen.

Ähnlich exotisch wie die Handlung des Films ist die Konstellation der Beteiligten: „Jade Warrior“ ist eine finnisch-estnisch-chinesisch-niederländische Koproduktion. Der estnische Anteil am Budget liegt bei zehn Prozent, und trotzdem zählt der Film zu den etwa drei abendfüllenden estnischen Spielfilmen pro Jahr, internationale Koproduktionen selbstverständlich inklusive. Der estnische Markt ist klein, das Budget der Filmförderer von der 1997 gegründeten Estonian Film Foundation auch: umgerechnet 2,85 Millionen Euro für 2005.

„Wir warten auf einen Messias“, sagt Karlo Funk, bei der Film Foundation zuständig für internationale Beziehungen, und meint es wahrscheinlich nicht ganz ernst. Oder doch? So genau weiß man das als Ausländer bei den (selbst-)ironischen Esten nicht. Sicher ist, dass Funk zumindest ein bisschen neidisch nach Nordwesten guckt: Island ist noch kleiner als Estland, hat aber die im Ausland bekannteren Regisseure: Baltasar Kormákur („101 Reykjavík“) zum Beispiel dreht mittlerweile in Hollywood.

Zumindest in Berlin dürfte von Freitag an der estnische Film schlagartig bekannter werden: Im Arsenal am Potsdamer Platz beginnt das erste Baltic Film Festival mit dem Fokus auf Estland. Ehrensache natürlich, dass die Estonian Film Foundation das von Gudrun Holz geleitete Festival unterstützt und zum Beispiel den Transport der Filme organisiert hat. Bis Mittwoch, den 28. September, werden 62 Filme gezeigt, davon alleine 33 Animationsfilme. Sowohl Puppen- als auch Zeichentrickanimation, vertreten durch die Studios „Nuku“ und „Joonisfilm“, gelten als Steckenpferd des estnischen Kinos – vor wie auch nach der politischen Wende.

Die Hommage im ersten Festivaljahr ist also nicht zufällig einem Animationsfilmer gewidmet: Priit Pärn. Er wohnt etwas außerhalb von Tallinn in einem Reihenhaus. Sein Gartenzaun ist die Ostsee, auf die er vom Esstisch aus guckt. Seit 1994 leitet der studierte Biologe an der Universität im finnischen Turku einen Animationsfilmstudiengang, der vor zwei Jahren beim Studentenfilmfestival im kanadischen Ottawa als weltweit bester ausgezeichnet wurde. Nachdem er 1976 seine wissenschaftliche Karriere zugunsten der Kunst an den Nagel hängte, arbeitete Pärn als Karikaturist und Illustrator – Jobs, die er heute zwischendurch immer noch gerne macht: „Am Ende einer Filmproduktion ist das Nie-wieder-Animation-Gefühl nämlich sehr stark“, sagt er, weil die Teamarbeit zwangsläufig Kompromisse mit sich bringe. Zwischen seinen Filmen braucht Pärn deswegen zwei bis vier Jahre Pause. Was aber ist das Besondere an Pärns Filmen, deren krakelige, wie von Kinderhand gemalte Figuren so gar nichts gemein haben mit der Lieblichkeit von Disney-Helden? „Pärns animierte Filme sind von beißendem Witz und oft komplexe Untersuchungen struktureller Effekte auf die Menschen“, schreibt der Kanadier Chris Robinson, Autor von „Between Genius and Utter Illiteracy – A Story Of Estonian Animation“, dem einzigen Buch über estnischen Animationsfilm. Und Festivalleiterin Gudrun Holz ergänzt: „Pärns Filme setzen nicht auf lineare Narration, sondern auf assoziationsreiche Zeichendichte, die einerseits zu Sowjetzeiten staatliche Kontrollinstanzen unterlief, andererseits der künstlerischen Verdichtung dient.“

Wie sehr die sowjetischen Besatzungen im seit 1991 wieder unabhängigen Estland nachwirken, zeigt der wohl streitbarste Film des Festivals „Namen in Marmor“ („Nimid Marmortahvlil“), der zugleich der erfolgreichste Film aller Zeiten in Estland ist. Mit 168.000 Zuschauern überholte er sogar „Titanic“. Aus der Geschichte einer Gruppe Schuljungen, die sich 1918 freiwillig melden, um für die Unabhängigkeit Estlands zu kämpfen, spricht ein Nationalismus, der deutsche Zuschauer eher befremden dürfte und sich nur aus der wechselhaften Geschichte Estlands heraus als eine Art Schutzmechanismus erklären lässt. Trotzdem bleibt dieses historisch-romantische Schlachtendrama Geschmackssache. Für Diskussionsstoff ist also ausreichend gesorgt. Und etwas Besseres kann einem Filmfestival doch eigentlich gar nicht passieren.

Baltic Film Festival Berlin – Focus Estland: 23.–28. 9. im Kino Arsenal; Infos: www.fdk-berlin.de