Die Auferstandene

GEWINNERIN Jünger, sanfter im Tonfall, wertkonservativ: Katrin Göring-Eckardt ist die neue Spitzenfrau der Grünen. Damit feiert die Kirchenfrau ein überraschendes Comeback

Die 46-jährige Ostdeutsche ist als klassische Bildungsbürgerin das beste Angebot an die bürgerliche Mitte, das die Grünen machen können

AUS BERLIN ULRICH SCHULTE

Nach ihrem ersten Fernsehinterview als Spitzenkandidatin atmet Katrin Göring-Eckardt erst einmal tief durch. Sie sieht den jungen Mann, der schräg hinter der Kamera steht. Geht zwei Schritte auf ihn zu und umarmt ihn. Drei, vier lange Sekunden in all dem Trubel. Es ist ihr Sohn, der am Samstag in die Uferstudios im Berliner Stadtteil Wedding gekommen ist, um sich den ersten offiziellen Auftritt seiner Mutter anzuschauen.

Um 9.57 am Morgen hat die Bundestagsvizepräsidentin eine SMS bekommen, die ihr ganzes Leben in den nächsten zehn Monaten ändern wird. Und vielleicht auch das danach. Absenderin ist Steffi Lemke. Die Bundesgeschäftsführerin simst: Göring-Eckardt und Fraktionschef Jürgen Trittin seien die gewählten Spitzenkandidaten.

Wenige Minuten später tritt Lemke in Berlin vor die Presse, wo die Grünen eine ehemalige Werkstatt der Berliner Verkehrsbetriebe in ein Wahlcenter umfunktioniert hatten. Sie gibt das bis zuletzt wie ein Staatsgeheimnis gehütete Ergebnis bekannt. Und schon drei Stunden später muss sich Göring-Eckardt öffentlich erklären.

Trittin, mit ihm hatten alle gerechnet. Aber Göring-Eckardt? Selbst Korrespondenten, die seit Jahrzehnten über die Grünen schreiben, vergessen vor Überraschung mitzuschreiben. Diese Nominierung ist ein Comeback der 46-Jährigen, das niemand erwartet hatte und das die gesamte Partei am Wochenende beschäftigt.

Göring-Eckardt sieht entspannt aus, als sie mit Trittin mittags vor die Kameras tritt, Lemke umarmt und einen Strauß Sonnenblumen entgegennimmt. Kurz entsteht Verwirrung – wohin nur mit den Blumen? Göring-Eckardt legt sie auf den Boden und darf, selbstverständlich, als Frau zuerst reden. In einem Nebensatz erwähnt sie mit leiser Ironie, dass eine Urwahl „mitunter kleine oder große Überraschungen“ bereithalte. Dann setzt sie das Signal, das ihr wichtig ist.

Die Gesellschaft dürfe die Menschen, die ganz draußen sind, nicht zurücklassen, sagt Göring-Eckardt im Scheinwerferlicht. „Wer sich bis zu einhundert Mal bewerben musste, wer mit wenig Geld seine Kinder ernähren muss, von solchen Menschen können wir lernen.“

Wir Grüne wertschätzen jeden, lautet die Botschaft. Diese Tonlage ist Göring-Eckardts Erfolgsrezept, einerseits, aber andererseits ist sie auch eine Verpflichtung. Um diese Dialektik zu verstehen, muss man ihre politische Vergangenheit kennen. Göring-Eckardt organisierte in der rot-grünen Regierungszeit unter Gerhard Schröder als Fraktionsgeschäftsführerin die Mehrheiten, dann war sie Fraktionschefin. Und, dies ist entscheidend, sie war eine überzeugte Anhängerin der Hartz-Reformen.

Im Wettstreit um die Spitzenkandidatur rückte Göring-Eckardt später so weit nach links, dass sich alte Parteifreunde über den „neuen Herz-Jesu-Sound“ der Sozialpolitikerin wunderten. Sie lobte die Grünen als „Wir-Partei“, sie betonte immer wieder: Niemand darf zurückgelassen werden. Eine Kümmererin, die von Langzeitarbeitslosen und Armen lernen will.

Mit dieser neuen Linie legte sich Göring-Eckardt fest: Im kommenden Wahlkampf muss sie die Neuerfindung ihrer selbst mit Konzepten unterfüttern, sonst machte sie sich unglaubwürdig. Und sie muss sich hüten, schwarz-grüne Farbtupfer zu setzen, obwohl sie einer solchen Kombination vielleicht sogar etwas abgewinnen könnte.

Die Überzeugungskraft für dieses Unterfangen besitzt die gewandte Rednerin. Als Bundestagsvizepräsidentin und als Präses der Synode der Evangelischen Kirche schaltete sich Göring-Eckardt in den vergangenen Jahren immer wieder klug in ethische Debatten ein. Als die Grünen darüber nachdachten, sie als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen, löste dies selbst beim politischen Gegner keine allzu große Verwunderung aus.

Und die meisten Grünen, die man am Wochenende zu der Personalie fragt, bezeugen: Die Basis hat gut entschieden, indem sie Göring-Eckardt nominierte. Marketingexperten würden sagen, dass sie das Portfolio verbreitert.

Die in Friedrichroda geborene Thüringerin steht habituell für einen anderen Politikertypus als die Generation Trittin oder Roth. Ostdeutsch. Sanfter im Tonfall. 12 Jahre jünger als der Fraktionschef. Ruhiger im Auftritt als Roth. Göring-Eckardt ist als klassische Bildungsbürgerin das beste Angebot an die bürgerliche Mitte, das die Grünen machen können, streuten ihre Unterstützer vor der Wahl. Sie muss sich nun in einem interessanten Spagat beweisen – dem zwischen Wertkonservatismus und dezidiert linken Botschaften.