Theorie des Nebels

SpartenmixDas Poesiefestival startet eine interdisziplinäre Reihe zu Lyrik, Musik und Tanz: „3 D poesie“

Shang-Chi Sun performt „Schulter von α und anderen, fernen Ländern“ Foto: Gerhard F. Ludwig

von Astrid Kaminski

Dem Einsatz von Bühnennebel nach zu urteilen, leben wir in ziemlich undurchsichtigen Zeiten. Dabei hält sich auf der Bühne allerdings niemand an den Gebirgstourismus-Ratschlag, bei aufkommendem Nebel lieber ruhig zu verharren als die Front durchbrechen zu wollen. Im Gegenteil. Sobald Nebel aufzieht, kommt etwas in Gang. Da Performer*innen oft keine erkennbaren Kostüme mehr tragen, kleiden sie sich gerne in die Gewänder von Nebelchimären. Das hat eine Art befreienden Effekt.

Ab jetzt ist wieder Theater angesagt. Was nicht heißt, dass irgendwer noch an Theater glauben würde. Oder an Nebel. Und trotzdem steht das eine für das Comeback des anderen. Nicht als semiotischer Raum. Denn Bedeutung entsteht natürlich längst nicht mehr auf der Bühne, sondern allerhöchstens in der Zuschauer*in. Was nicht heißt, dass Nebel nur Nebel ist. Denn alles, was unter Einsatz von Verdampfungsmaschinen passiert, ist dem Kausalitätsdruck von Realität entzogener Möglichkeitsraum. So könnte eine Theorie des Nebels lauten.

Was aber, wenn, wie jüngst beim Poesiefestival in der Akademie der Künste, Nebel doch einen theatralen Raum markiert, in dem es um die Verhandlung von konkretem Material geht? Ignorieren? Interpretieren? Ersteres wäre leichter. Denn was das Team Roy Carroll und Maya Matilda Carroll als Komponist und Choreografin sowie Christian Hawkey als Autor (einer neuen Reihe zur Verschränkung der Sparten Lyrik, Tanz, Musik) zeigen, ist in erster Linie eine Material-Improvisation auf Basis von Leben und Werk der als Sexologin bekannten Charlotte Wolff (1897–1986).

Wolff war Psychologin, Philosophin und Ärztin am Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus, als Jüdin und Lesbe emigrierte sie 1933 aus Deutschland über Frankreich nach England. Eher um zu überleben, so lässt sich aus Internetquellen schließen, verlegte sie sich aufs Handlesen (zu ihrem Kundenkreis gehörte Virginia Woolf), später erlangte sie Berühmtheit für ihre Forschungen zu lesbischer Liebe.

Beide Aspekte, die Chiromantie sowie die Genderforschung, sind Bestandteil von Hawkeys und Carrolls Performance „Ingesture“ (etwa „Begesten“), auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits als Rahmenhandlung, andererseits als performatives Material. Ersteres ist, wie der Nebel, in seiner Oberflächlichkeit eher fragwürdig. Maya Carroll, die in eine dynamisch-schluffige Rapperfigur mit Urban-Outfit, nach vorne gebogenen Hüften und Schultern und eingewelltem Bauch schlüpft und am Ende ihr Haar aus dem Cap schüttet, scheint den queeren Aspekt von Wolff zu verkörpern. Hawkey, der äußerlich er selbst bleibt, scheint einer ihrer Klienten zu sein.

Innerhalb dieser Konstellation wird nun an Gestenkunde gearbeitet: Welche Geste passt zu der Wortreihe „touch, recognize, dream, remember, break“? Viele. Recognize: die abgewinkelten Handflächen schauen am langen ausgestreckten Arm nach vorne – oder: zwei sich anschauende Hände – oder: zwei Antennenfinger … Jeweils abwechselnd variieren Hawkey und Carroll die Wörter gestisch.Ein Spiel, das nicht Willkür, sondern eine Bedeutungsmatrix aufzeigt, die letztlich auch als Analogie zum Babylon der Sprache gelesen werden kann: Jedes Wort in einer bestimmten Sprache ist nur eine Annäherung an das Bezeichnete unter bestimmten Bedingungen. Oder zu Körperpolitik: Jede Erscheinung eines Körpers ist eine Geste, keine Fixierung.

Schwaden überm Projekt

Die Sexologin Charlotte Wolff emigrierte als Jüdin und Lesbe 1933 aus Deutschland

Wie Hawkey vor allem diesen Aspekt in Spoken-Word-artige Assoziation flicht, das entfaltet eine fast schon visuelle Kippfiguren-Energie – ausgehend von Handmetaphorik wie „berührt“ und „gehalten sein“ und endend bei missinterpretierten (einen Mann für eine Frau halten) oder kaum spürbaren körperlichen Gesten (Hallo zu jemandes Rücken sagen). Der Nebel ist gelichtet, auch weil Roy Carroll sich mit seinen Klangeinwürfen atmosphärisch-rhythmisch anpasst.

Ziemliche Schwaden hängen dagegen über dem Projekt „3 D poesie“ im Gesamten. Denn wie die anderen zwei Uraufführungen zeigen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die ausgereiften Ästhetiken der ehemals vereinten Künste Lyrik, Komposition und Tanz/Choreografie untereinander gar nicht verstehen, groß.

Wie genau Daniel Falbs mutmaßliche Parodie auf Notenbank und Griechenland anhand von als Allegorien auftretenden Lettern des griechischen Alphabets zu verstehen ist, das konnte und wollte weder Shang-Si Sun mit seinen asian-contemporary moves noch Markus Pesonen mit seiner mikrotonal-romantischen Komposition für Streichquartett erhellen. Drei Kanal statt drei D, oder: Ein paar Recherchestipendien wären toll.