Märchen im Waschsalon

STADTTEIL-FEST Für das 18. Erzählfestival „Feuerspuren“ sind erneut tausende Besucher nach Gröpelingen gekommen. 90 Erzähler zelebrierten ihre Geschichten – in der Moschee, der Praxis oder der Jurte

Erzähl doch mal – so könnte ganz naiv gesellschaftliches Miteinander beginnen: Auseinandersetzung mit Sprachen, ihren Kulturen und Geschichten

Es war einmal, es ist, wird, könnte sein – wenn jemand eine Geschichte beginnt, wächst die Lust auf den Rhythmus der Ruhe im Prozess des Erzählens und Zuhörens, es steigert sich neugierig erwartungsfroh die Konzentration, Augen beginnen zu leuchten – tief hinein in eigene Sehnsüchte: nach magischen Abenteuern, Erklärungen für das ganze Tohuwabohu um einen herum, nach Kriterien fürs Einordnen in Gut und Böse. Das 18. „Feuerspuren“- Festival in Gröpelingen, es vereinte: Inzwischen kommen Bremer aus allen Himmelsrichtungen, um sich bei den mit den Flammen tanzenden Künstlern sowie am Reichtum des (zum 6. Mal integrierten) Erzählfestivals zu wärmen. Repräsentation der Stadtteilkulturarbeit als Straßenparty-lockeres Ereignis.

„Dem klanglichen und inhaltlichen Ausdruck, der Ressource von Sprachen widmen wir unser Erzählfestival“, erklärt deren Leiterin Christiane Gartner. Vor 200 Jahren erschienen die Kinder und Hausmärchen der Gebrüder Grimm und gerade in diesem Jahr der europäischen Schriftkultur setzt das Festival auf nur im Alltag der afrikanischen Landbevölkerung noch ritualisierte Erzählsituationen – z. B. bei Familienfesten, Palmweinrunden, Abendgesellschaften. Erzähl doch mal – so könnte ganz naiv gesellschaftliches Miteinander beginnen: Auseinandersetzung mit Sprachen, ihren Kulturen und Geschichten. Und das im Herzen Gröpelingens, der Lindenhofstraße, einst Prunkmeile florierenden Einzelhandels, heute mit reichlich EU-Mitteln mühsam aufgehübscht für die 35.000 BewohnerInnen des Stadtteils.

Gröpelingen, das sonst gern klischeehaft wahrgenommen wird, durch seine hochprozentigen Daten in Sachen Arbeitslosigkeit, Migrantenanteil und die Zahl der Kinder aus Elternhäusern, die von Lohnersatzleistungen abhängig sind. Niedrige Mieten, viele Kulturen. So wurde der Stadtteil aber auch Außenspielstätte fürs junge linke Milieu mit Eine-Welt-Läden & Co.

Ob im Waschsalon, Bauernhof, in der Moschee, Arztpraxis, Recyclingbörse, bei Vatan Sport, im Fahrradladen, Linienbus oder der lagerfeuerig gemütlichen Jurte: An 16 Orten nutzen 90 Erzähler die Freiheit, ihre Geschichten entsprechend des anwesenden Publikums zu zelebrieren. Es gab immer mehr Interessierte als Stühle für die Erzählkultur. Christiane Gartner sucht vorbereitend seit Jahren mit KollegInnen nach Gröpelinger Sprach-Spendern für ein Archiv der im Bremer Westen beheimateten Sprachen – und hat bereits 70 registrieren können. 20 davon erklangen jetzt auf dem Festival.

Einige Erzähler jonglierten mit drei Sprachen, damit alle Zuhörer möglichst viel verstehen. Andere spielten sich mit Übersetzern und Miterzählern multilingual die Stichworte zu. Im nie nachlassenden Stromern und Trubeln auf der Lindenhofstraße konnten Besucher auch unter lustig blinkenden Regenschirmen zusammenkuscheln und Stegreifgeschichten lauschen oder in hochgehaltenen Bilderrahmen kostümierten Kochlöffeln beim Fabulieren zuschauen. An Erzählfahrrädern bebilderten Sprecher ihre Moritaten mit wechselnden Zeichnungen in einem Schaukasten am Lenker. „Bei traumhaftem Wetter waren am Sonntag an die 6.000 Besucher gekommen“, schätzt Gartner. So viele wie noch nie. Im nächsten Jahr, am 9. und 10. November 2013, werde man für den stetig wachsenden Zuspruch noch mehr Erzählstationen einrichten. Jens Fischer