Im Wedding

FOTOBAND „Berlin-Wedding – Das Fotobuch“ porträtiert eindrücklich die Menschen, Plätze, Straßen des einstigen Arbeiterbezirks. Ein Vorabdruck ausgewählter Werke, die auch in einer Schau zu sehen sind

Aus der Serie „Zuhause“ Foto: Ina Schoenenburg

von Dirk Gieselmann

Aus der Serie „Wild wuchs der Wedding“ Foto: Tobias Kruse

Aus der Serie „Weddings Kinder“ Foto: Dorothee Deiss

Kein Mensch sagt: das Kreuzberg. Es sei denn, er meint ein bestimmtes Kreuzberg, etwa ein verblichenes, untergegangenes: das Kreuzberg von 1987, als am 1. Mai die Barrikaden brannten. Es sagt auch niemand: das Neukölln. Es sei denn, er meint ein bestimmtes Neukölln, etwa eins, in das er sich nicht mehr hineintraut, weil er in den Nachrichten gesehen hat, dass die Frauen dort jetzt alle verschleiert herumlaufen müssten und an Schulen die Scharia gelte. Es sagt auch niemand: das Moabit, das Charlottenburg.

Aus der Serie „Nachtstücke“ Foto: Heinrich Völkel

Doch alle sagen: der Wedding. Als wäre dieser Bezirk von vornherein bestimmter als die anderen, ein Phänomen an sich, eine Marke, eine unzerstörbare Entität, etwas Fleischgewordenes, mehr ein Wesen als ein Ort, ein Wesen immerhin, das den bestimmten Artikel verdient. Der Wedding, das klingt, als wäre man per Du mit ihm, weil er ein alter Freund ist, den man mal wieder besuchen müsste in seiner obskuren Behausung, zwischen all den Erinnerungen, die er nicht wegschmeißen will. Oder weil es irgendwie unpassend wäre, jemanden zu siezen, der einem gerade die Brieftasche geklaut hat und nun mit ihr davonrennt. Sie Schwein, das sagt ja niemand, doch alle sagen: der Wedding.

Aus der Serie „Black Wedding“ Foto: Espen Eichhöfer

Aus der Serie „Auf dem Ku’damm des Nordens“ Foto: Hendrik Lietmann

Der Wedding, Kumpel und Halunke. Immer klamm, lebt er auf Pump, lässt anschreiben. Der Deckel ist längst voll, doch an zwei Dinge glaubt er fest: dass morgen die Sonne wieder aufgeht und damit der Beweis erbracht ist, dass es irgendwie weitergeht.

Aus der Serie „Simon Rose“ Foto: Foto:Linn Schröder

Der Wedding: Es wäre einfach, auf ihn herabzublicken als Fly-Over-State Berlins, den man geflissentlich überquert. Was man vom Business-Class-Flieger aus nicht sehen kann: Hier wird die Zukunft einer Gesellschaft verhandelt, in der die klassischen Milieus sich auflösen. In der die einen keine Arbeit finden und die anderen Geld verdienen mit etwas, das mit Maloche gerade noch so viel zu tun hat wie ein Laptop mit einem Amboss. In der die Kulturen, Religionen, Herkünfte und Mentalitäten zusammengerührt werden und alle irgendwie miteinander klarkommen sollen: Omas, Hipster, Entrepreneure, Pleitegeier, Spießer, Renegaten, Junge, Alte, Muslime, Christen, Atheisten, gebürtige Türken, gebürtige Niedersachsen, Menschen und Unmenschen.

Vorabdruck aus: Julia Boek, Axel Völcker (Hg.): „Berlin-Wedding – Das Fotobuch“. Kerber Verlag, Hardcover, 236 Seiten, 40 Euro. Erscheint am 30. Juni | www.derwedding.de

„Berlin-Wedding. Ein Stadtteil – ­16 fotografische Positionen“, ­Ausstellung vom 17. bis 30. Juni, ­Galerie Wedding, Müllerstraße 147–148