Puffmutter für 1 Euro

Es brechen harte Zeiten an – auch in der Arbeitsagentur für Romanfiguren

Der rot-grüne Schlendrian ist abgewählt. Feingeisterei, Weltliteratur aus, vorbei, perdu

Berlin-Pankow. Im Arbeitsamt für Romanfiguren. Durch ein halbblindes Fenster fällt mattes Licht auf das Porträt der Kanzlerin. An der Wand gegenüber grüßt ein Spruchband: „Billiglohn macht frei“. Darunter lümmelt ein Haufen derangierter Gestalten auf Plastikstühlen: Romanfiguren.

Oblomow schnarcht. Roßmann, Werther und der Graf von Monte Christo kloppen Skat, der Dirty Old Man nuckelt an einer Pulle Weizenkorn. Er rülpst und kratzt sich am Sack. Die Frau in Weiß verzieht kurz das Gesicht, dann starrt sie wieder geisterhaft auf Oskar Mazerath, der, die DDR-Hymne trommelnd, seit Stunden durch den Flur marschiert. Franz Biberkopf rammt seinem Nachbarn die Nagelschuhe in die Wade. „Kiek ma, Stiller, den Gnom. Der hat se nich alle.“ – „Ich bin nicht Stiller“, sagt Stiller und versinkt in brütendes Schweigen. Biberkopf grunzt, streckt die Beine aus und fixiert das Dekolleté der Bovary. Madame ist empört. Aber ehe sie ein „scandaleuse“ über die Lippen bringt, öffnet sich das Büro von Sachbearbeiter Unrat. Seine Stimme schneidet durch den Flur.

„So, so! Thea Dorn ist zu doof und Politycki unter Ihrem Niveau. Mein lieber Swann, der rot-grüne Schlendrian ist abgewählt. Dekadenz, Feingeisterei, Weltliteratur aus, vorbei, perdu. Auch wenn Sie zehnmal bei Proust angestellt waren, das Gebot der Stunde heißt: kapitalistischer Realismus! Dienen, Maul halten, ranklotzen. Oder ich streiche Ihnen das Kleidergeld. Und jetzt raus.“ Swann wankt aus dem Büro. Als er sich setzt, schüttelt ihn ein Weinkrampf: „Nazi-Puffmutter im neuen Thor Kunkel soll ich werden, für 1 Euro bei Rowohlt.“

Unter den Romanfiguren beginnt es zu rumoren. Auch Dr. Katzenberger kann es nicht fassen. „O, dies schäbige Lumpenpack. Wir sind doch Klassiker.“ – „Un ökonomisch ganich zurechnungsfähich“, lallt der heilige Trinker. Biberkopf verpasst ihm eine Kopfnuss: „Ike mach alett für Jeld.“ – „Ruuuhe!!“, brüllt Unrat und fährt unbeirrt fort: „Macht also Biberkopf die Puffmutter. Ferner ist heute folgendes Projekt zu besetzen: ‚Ich Schröder, Kanzler und Gott‘ von Béla Anda. Brauche vier Frauen mit Pferdegebiss und einen aalglatten Parvenu. Eine Paraderolle für Ulrich, unseren Mann ohne Eigenschaften.“

„100 Jahre Musil und nun Sozialdemokrat, das ist mein Ruin“, stöhnend sinkt Ulrich neben Swann auf das Plastikgestühl. „Würdelos“, lispelt Jenny Treibel. „Gequirlte Scheise“, keckert der Dirty Old Man und hält dem heiligen Trinker die Pulle hin.

„Aber einträglich! Und das hat ab sofort Konsequenzen!“ Sachbearbeiter Unrat ist auf einen der Plastikstühle geklettert und wird amtlich. „Taugenichts, der Grüne Heinrich und Wilhelm Meister Spargelstechen in Wusterhausen; Gesine Crespahl, Felix Krull und Anselm Christlein Rasenmähen vor dem Reichstag; Lederstrumpf, Old Wabble und Apanatschi Ausmisten im Zirkus Krone. Dr. Katzenberger zu ‚McClean‘ am Bahnhof Zoo; Stawrogin, die Brüder Karamasow und Stiller melden sich gefälligst bei Schlecker in der Sonnenallee!“

„Ich bin nicht Stiller“, sagt Stiller. „Leck mich am Arsch“, ruft Stawrogin. Unrat greift in die Tasche seiner BGS-Uniform, zieht ein Blatt heraus und trompetet: „Bundesnotstandsnovelle § 4 Absatz 3: ‚Charaktere, die sich den Anforderungen der Arbeitsagentur verweigern, sind in die Straflager Burda und Bastei-Lübbe zu verbringen, Renitentes Nicht-EU-Roman-Personal ist sofort auszuweisen.“

„Merde.“ Der Fremde ist aufgesprungen und will sich auf Unrat stürzen. Sam Spade fällt ihm in den Arm: „Lass gut sein, Junge.“ Er schiebt den leptosomen Algerier beiseite, zieht einen 38er aus dem Trenchcoat, die er dem Sachbearbeiter lässig unter die Nase hält: „Hose runter!“ Unrat erbleicht. „Runter!“ Unrat, immer noch auf dem Stuhl stehend, nestelt am Gürtel und lässt Über- und Unterhose fallen. Sein pickliger Hintern schimmert mondbleich in der Höhe.

„Bücken!“, raunzt Marlowe. Unrat beugt den Oberkörper. Er schwitzt und ächzt asthmatisch: „Und nun?“ Die Klassiker sehen sich ratlos an. Dann quengeln alle durcheinander: „Er soll sich seine Notstandsnovelle reinstecken!“ – „Hartz I bis IV!“ – „Susanne Fröhlich!“ – „Nein, die Kanzlerin!“ – „Westerwelle!“ – „Bütikofer!“ „Um Gottes willen“, schreit Unrat, „das steht nicht in meinem Arbeitsvertrag.“

„Wir könnten was singen“, versucht Käptn Ahab die peinliche Situation zu retten. „Famose Idee, alter Walknochen.“ Long John Silver hebt sein Holzbein und schlägt einen Viervierteltakt. Beide gröhlen: „Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste, johoho, und ’ne Buddel voll Rum. Sauft, und der Teufel sagt Amen dazu, johoho, und ’ne Buddel voll Rum …“

Aus dem Off meldet sich sichtlich genervt eine Stimme. Sie gehört Autor Quasthoff: „Aus, aus, aus! Danke, meine Damen und Herren. Das war alles schon sehr schön, aber über den Schluss muss ich wohl noch mal nachdenken. Wenn Sie morgen nochmal vorbeikommen könnten …“ – „Keinesfalls“, kreischt Unrat, „da haben wir eine andere Baustelle.“ Hier bricht das Manuskript ab … MICHAEL QUASTHOFF