Wie wir Palästinenser wurden

50 Jahre Besatzung Der Sechstagekrieg hat den Panarabismus beendet und die Identität der Palästinenser neu definiert – auf beiden Seiten der Grenze

Mary Totry

Foto: privat

ist Palästinenserin mit israelischem Pass. Sie ist Soziologin und lehrt am Ora­nim Academic College of Education in Haifa. Sie hat zum Thema Massenmedien und Nationbuilding am Beispiel der Palästinenser promoviert. Sie forscht außerdem zu Frauen in arabischen Medien.

von Mary Totry

Als der Sechstagekrieg ausbrach, war ich neun Jahre halt. Außer daran, dass es keine frische Milch mehr gab, erinnere ich mich an die Verzweiflung meiner Eltern und unserer Nachbarn. Während der Sechstagekrieg ein glänzender Triumph für die israelischen Juden war, stellte er für die arabische Welt wie auch für die Palästinenser in Israel eine beschämende Niederlage dar. Wir mussten mit ansehen, wie die Israelis sich über die arabische Welt und den ägyptischen Präsident Gamal Abdel al-Nasser – ein arabischer Natio­nalheld – lustig machten. Der Krieg war ein Rückschlag für den Panarabismus, an den die meisten Araber glaubten, und markierte gleichzeitig den Beginn des palästinensischen Nationalismus.

Nach einer Weile begannen die Palästinenser in Israel, die „positiven“ Ergebnisse des Sechstagekriegs zu sehen. 19 Jahre lang waren sie von der arabischen Welt und ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern hinter der Grünen Linie abgeschnitten. Aber nach dem Krieg konnten sie familiäre, kulturelle und politische Bande mit den Palästinensern im Westjordanland und im Gaza­streifen knüpfen. Die verschobene Fokussierung der Sicherheitsbehörden hin zu den Palästinensern in den besetzten Gebieten war eine weitere „positive“ Auswirkung.

Plötzlich nicht mehr ganz unten

Israel hatte von 1948 bis 1966 eine militärische Verwaltung der Palästinenser erzwungen, die viele ihrer Grundrechte – wie Redefreiheit oder das Recht auf freie Wohnort- und Arbeitsplatzwahl – einschränkte. Während dieser Zeit standen sie unter strenger Kontrolle des Geheimdienstes. Nach dem Krieg aber musste sich der gesamte Sicherheitsapparat auf eine neue Bevölkerung konzentrieren, sodass die Palästinenser in Israel eine gewisse Erleichterung erfuhren.

Ähnlich verhielt es sich mit ihrem Status auf dem israelischen Arbeitsmarkt. Bis 1967 standen die palästinensischen Arbeiter in Israel ganz unten, aber als dann die Palästinenser aus den besetzten Gebieten auf den Arbeitsmarkt drängten, stiegen sie auf in einen höheren Rang.

Die Wiedervereinigung der Palästinenser von beiden Seiten der Grünen Linie löste aber nicht die Grenze auf, die weiterhin Bürger und Nichtbürger unter der Besatzung trennte. Die „Wiedervereinigung“ trug so zu einer Polarisierung der politischen Orientierung der Palästinenser in Israel bei. Sie wollten nicht ausgegrenzt, sondern in die israelische Gesellschaft integriert werden und das Grundrecht der Gleichheit aller genießen. Dies war der Beginn einer „Israelisierung“ der Palästinenser und ihres wachsenden Bewusstseins ihrer Bürgerrechte.

Zur gleichen Zeit aber durchliefen sie auch einen Prozess der „Palästinensierung“. Sie fühlten sich als Teil des palästinensischen Kampf um die Errichtung eines palästinensischen Staats, von dem sie selbst gar nicht Teil wären. Die Palästinenser in den besetzten Gebieten wiederum erfuhren einen Wandel von einer panarabischen Minderheit hin zum Herzstück des künftigen Palästinenserstaats.

Kurz nach dem Krieg warnte Professor Jeschajahu Leibowitz die israelische Gesellschaft, dass die Besetzung sie zwangsläufig korrumpieren würde. Bis vor ein paar Jahren wurde alles, was im Westjordanland passierte, von der israelischen Öffentlichkeit als vorübergehend angesehen. Doch seit den gescheiterten Friedensgesprächen ist dieser Zustand vorbei.

Politiker begannen, die israelische Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Palästinenser keine Partner, sondern Feinde seien und der Nahostkonflikt unlösbar. Sie bedienten sich einer Rhetorik der Dämonisierung und Dehumanisierung, um ihren Glauben zu legitimieren, dass es keine Chance auf eine Akzeptanz des Staates Israel seitens der Palästinenser gebe.

Heute ist die israelische Gesellschaft Zeuge, wie Kritiker nicht per Gesetz, sondern durch gesellschaftlichen Druck in die Enge getrieben werden. Kritik scheint nicht mehr legitim – das reicht, um kritische Stimmen nahezu verstummen zu lassen. Dieses Muster zeigt sich immer wieder, zum Beispiel bei der öffentlichen Sympathie für Elor Azaria, den jungen Soldaten, der einen verletzten palästinensischen Attentäter mit einem Kopfschuss tötete. Das ist nichts Neues – seit der letzten Intifada haben Stimmen aus nahezu dem gesamten politischen Spektrum gefordert, jeden Palästinenser zu töten, der ein Messer gegen Soldaten erhebt. Es ist legitim geworden.

Gleichzeitig fragt Verteidigungsminister Avigdor Lieberman offen: Warum brauchen wir überhaupt arabische Bürger im Land? Die israelische Gesellschaft ist rassistischer gegenüber Palästinensern geworden, sowohl gegenüber denen in Israel als auch denen in den besetzten Gebieten.

Bis zum Sechstagekrieg waren die Palästinenser in Israel abgeschnitten von der arabischen Welt

Ich glaube, dass eine Zweistaatenlösung der richtige Weg ist, um den Konflikt zu beenden. Aber leider sehe ich keine Möglichkeit, diese Lösung umzusetzen. Die letzten israelischen Regierungen haben hart daran gearbeitet, die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen, indem sie bestehende Siedlungen ausgeweitet und neue gebaut haben, sodass die Palästinenser keinerlei Möglichkeit mehr haben, ihren eigenen Staat neben dem israelischen zu errichten.

Besatzung für Israelis weit weg

Derzeit gibt es keinen Anlass für die Israelis, das Apartheidsystem zu beenden, das seit dem Friedensprozess von Oslo errichtet wurde. Die meisten Palästinenser sind in ihren Enklaven eingeschlossen. Israelis begegnen ihnen im täglichen Leben aber nicht und hören auch wenig über sie, nachdem die israelischen Medien daran das Interesse verloren haben. Israel hat sich aus der direkten Verantwortung gezogen, indem alle lästigen Pflichten der palästinensischen Regierung übertragen wurden: Arbeitsplätze, Gesundheit und Bildung. Sicherheit und Überwachung, die natürlichen Ressourcen im Westjordanland und die Leben der palästinensischen Bevölkerung werden weiterhin von Israel kontrolliert.

Heute ist die Macht zwischen Israel und den Palästinensern so ungleich verteilt, dass es keine Chance gibt, überhaupt an den Verhandlungstisch zu gelangen. Nur wenn Israel sich entscheiden würde, die Situation zu verändern, und wenn internationaler Druck ausgeübt würde, die Besatzung zu beenden – nur dann gäbe es die Chance auf Annäherung.

Übersetzung: Johanna Roth