„Hier wurden kulturelle Rabatte gewährt“

Dass bei mutmaßlichen Ehrenmorden auf Totschlag plädiert werde, dürfe nicht sein, sagt die ehemalige Ausländerbeauftragte John. Eine Denk-mal-nach-Veranstaltung wie die Interkulturelle Woche sei verdienstvoll, hinke der Entwicklung aber hinterher

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Frau John, um die Jahreswende gab es allein in Berlin in vier Monaten vier Mordfälle, die höchst wahrscheinlich Ehrenmorde waren. Ist dies ein Zeichen, dass die Integration von Migranten in die Gesellschaft gescheitert ist?

Barbara John: Überhaupt nicht. Die Frauen, die ermordet worden sind, sind ja ganz konsequent den Integrationsweg gegangen – und sie sind deshalb auch umgebracht worden. Das bedeutet, dass diejenigen, die sich als Verlierer dieses Prozesses sehen, der auch eine Rollenverschiebung von der Dominanz der Männer zu einer Gleichberechtigung der Frauen ist, dies zurückdrehen wollten. Gerade die Frauen haben die berufliche und die Bildungsintegration als ihre Chance gesehen. Dafür, für Integration, wurden sie ermordet.

Die Mörder dagegen haben die Integration nicht geschafft, obwohl die meisten hier aufgewachsen sind.

Das ist wohl wahr. Wir müssen uns auch fragen, ob wir mit den richtigen Signalen auf diese Verbrechen reagiert haben. Ich meine: nicht. Denn bei den Anklagen ist meist auf Totschlag, nicht auf Mord plädiert worden. Hier wurden kulturelle Rabatte gewährt. Auch dass die Familie in der Regel zum Mord angestiftet hat, wurde nicht beachtet. Nur andere, deutliche Signale können Männer mit diesen archaischen Vorstellungen von solchen Taten abbringen. Sonst gar nichts.

Gleichzeitig gibt es Politiker und Soziologen, die warnen, dass es immer mehr „Parallelgesellschaften“ gebe. Was haben dabei die „Interkulturellen Wochen“ gebracht?

Dass wirklich Integration durch die „Wochen“ gelingen könnte, hat wohl niemand gedacht. Was die Kirchen geleistet haben, ist sehr verdienstvoll. Ich habe jetzt den Eindruck, dass diese „Denk-mal-nach-Woche“ den neuen Entwicklungen hinterherhinkt. Wir sollten dazu übergehen, die Einwanderersituation als etwas Normales zu betrachten.

Sollte man die „Wochen“ dann gar lieber abschaffen?

Man sollte sie umwandeln. Die „Woche“ bleibt hinter der täglichen Dynamik des Zusammenlebens zurück. Sie führt thematische Veranstaltungen zusammen. Das bewegt nicht mehr viel. Wäre nicht ein mehrjähriges Aktionsprogramm der Kirchen angemessener?

Schon vor 30 Jahren hieß es vom Rat der EKD, die „Woche“ solle mithelfen, dass auch bei den Migranten ein Interesse an politischer Mitverantwortung entstehe. Bis heute gibt es aber nur wenige Spitzenpolitiker migrantischer Herkunft. Was ist da schief gelaufen?

Wie kommt man in die Spitzen der Parteien? Manchmal, weil man Migrant ist. Aber im Normalfall erst dann, wenn man sich in den undurchsichtigen Beziehungsgeflechten zurechtfindet. Und das dauert.

Bereits 1978 sprachen die Kirchen anlässlich der „Woche“ davon, dass Deutschland für viele Migranten „zum Einwanderungsland geworden“ sei – warum hat sich dieses Denken nur so langsam durchgesetzt?

Weil es damals einen breiten politischen Konsens gab, kein Einwanderungsland zu werden. Man hätte sich schon 1973, nach dem Anwerbestopp, neu ausrichten müssen, dann hätten wir von vornherein auch hochqualifizierte Zuwanderer angeworben und von den anderen mehr Integrationsleistungen gefordert. Im Jahr 2005, nachdem wir uns als Einwanderungsland definieren, haben wir bis Mitte des Jahres 700 Hochqualifizierte zugelassen! Darauf könnte Monaco stolz sein, aber nicht ein Land, das Exportweltmeister ist.

Vor 25 Jahren schon stellten die „Woche“-Vorbereiter fest: „Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft.“ Heute scheint man nicht mehr so gern darüber zu reden – warum?

Weil es nie Klarheit über diesen Begriff gab. Die Linke, vor allem viele Grüne, haben Multikulti noch vor zehn Jahren so verstanden, dass Kultur und davon abgeleitete Gruppenrechte bedeutsamer sind als gemeinsame Grundrechte. Der liberale Pluralismus-Ansatz dagegen weiß, dass gerade bei wachsender Vielfalt eine von allen respektierte politische Kultur notwendig ist.

„Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild“, erklärten die Kirchen 1994. Können dieser Gedanke und die Folgen daraus noch genug Leute erreichen, wenn die Bindungskraft der Kirchen immer weiter abnimmt?

Auch wenn viele Leute mit Gott nichts mehr anfangen können, spüren sie doch, dass in solch einem Satz die Heiligkeit des Lebens ausgedrückt wird. Die Einmaligkeit des Lebens wird von allen verstanden. Wir müssen mit Leidenschaft für diesen Grundsatz eintreten.

Manche meinen ja, die Kirchen müssen deutlicher als früher die theologisch-politischen Differenzen etwa gegenüber den Muslimen herausarbeiten, die Zeit des Schmusens sei vorbei. Finden Sie, das stimmt?

Diese Dialogveranstaltungen, bei denen man betonte: „Wir haben ja so viel gemeinsam“, das ist überholt. Wir müssen ernsthaft über die Unterschiede sprechen, sie geradezu herausarbeiten. Es gibt zum Beispiel Muslime, die glauben, dass die Trennung von Staat und Religion die Wurzel vieler Übel ist. Das Gegenteil ist der Fall. Dafür sollten wir streiten, auch wenn darüber die Harmonie flöten geht.