Eine Probe der Vielfalt

Wo Berlin tanzt 2 Die Berliner Tanzszene ist eine der größten Szenen weltweit: Eine taz-Serie stellt wichtige Tanzorte und Netzwerke vor. Diesmal geht es ins Dock 11 in Prenzlauer Berg – hier läuft am meisten Tanz

Dehnen, strecken, den Körper in Bewegung bringen: Tanz in Loft-Stimmung in der Kastanienallee im Dock 11 Foto: Rolf Zöllner

von Astrid Kaminski

Der Raumpfleger nimmt elegant noch hier und da ein bisschen Staub mit dem Bodentuch ab, um ihn herum räkeln sich ein paar Frühaufsteher*innen, die zur Contemporary-Profi-Klasse gekommen sind. Ah, dieses gymnastische In-den-Tag-Schwimmen, diese Mischung aus Überwindung und Genuss! Ein bisschen Dämmermusik noch, dann geht es langsam los: Unterricht bei Maayan Danoch, Typ ruhige Stimme, super Playlist, aufgeräumte Ausstrahlung, gute Laune.

Melodi, eine der Teilneh­mer*in­nen am Training, ist an dem Tag erstmals im Dock 11. Auch als in Kreuzberg sozialisierte Tänzerin mag sie es hier in diesem typischen Loft-Studio mit Gewölbedecke, Stahlträgern, innen geweißten und außen naturbelassenen Backsteinen, den großen Glasfenstern zwischen den Räumen. Ihre Mutter saß mit 17 in der Türkei im Gefängnis ein, Grund: Tanzen. Die Leidenschaft hat sich vererbt. Zusätzlich zu ihren Tanzauftritten studiert Melodi Physik und Philosophie, später will sie einmal einen Kindergarten gründen. Mit diesen Plänen passt sie gut ins Dock 11. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird dort großgeschrieben. Pädagogik und Kunst gehören an diesem wichtigen Berliner Tanzort zusammen.

Wenn Kirsten Seeligmüller, Mitbegründerin des Dock 11, darüber nachdenkt, dass es in Deutschland trotz des Tanz-in-Schulen-Hypes noch kein Studium in ihrem Fach gibt, wirkt sie resolut. Headspins im zu jungen Alter könnten aus Talenten Invaliden machen, und auch ein Wissen über die psychischen Entwicklungen von Kindern sei unentbehrlich. Die Kinder- und Jugendkurse im Dock 11 sollen nicht nur Geld bringen – sie sind eine Leidenschaft.

So manche heute bekannte Performerin hat im Dock 11 angefangen. „Sobald sie nicht mehr über das Wort Schambein kichern“, sind die Tanz­schüler*innen dann reif für die Erwachsenenkurse. Die älteste Schülerin ist über 70.

Gut 15 Tanzkurse täglich bietet das Dock 11. Dabei bekommt eine Tanzschule anders als eine Musikschule keine staatlichen Subventionen. Die Kurse laufen jedoch gut, sie sind der Durchlauferhitzer des Betriebs, der die am meisten bespielte Tanzbühne Berlins hervorgebracht hat und inzwischen mehrere Dutzend Mitarbeiter*innen in verschiedenen Anstellungsverhältnissen umfasst. Wie so oft in der selbstorganisierten Tanzlandschaft der Hauptstadt wurde der Community-Faktor von Anfang an mitgedacht.

Angefangen hat Seeligmüller zusammen mit ihrer Kollegin Wibke Janssen kurz nach der Wende. Nach dem Mauerfall zieht es die beiden Hamburgerinnen in den Ostteil der Stadt. Es interessiert sie das, was im Idealfall positiv vom Osten übrigbleiben würde: ein anderes Verhältnis zu Arbeit und Geld, die Rolle der Frau. Zunächst mieten sie nur einen Raum in dem Hinterhof-Loft in der Kastanienallee. Am Vormittag Probe mit der eigenen Company, am Nachmittag Kurse, am Wochenende Aufführungen auf dem großteils noch brachliegenden Gelände.

Dieses Wochenende sind im Dock 11, Kastanienallee 79, in einer Wiederaufnahme „2Points“ und „Human Intermittents: A Journey“ zu sehen, zwei Tanzstücke von Stella Zannou und Alexander Carrillo. Samstag, Sonntag, jeweils 19 Uhr. Eintritt 14/10 Euro.

Anfang Oktober findet im Dock 11 das Tanzfilmfestival Pool mit Tanzfilmproduktionen aus aller Welt statt. Einsendeschluss für entsprechende Angebote für das diesjährige Festival ist der 17. Juli. Info: www.dock11-berlin.de

Doch bald schon wird die Community zu groß, der Platz zu knapp. 1996 bauen sie das Scheunengebäude im Hof zum Theater aus. Um pünktlich für Tanz im August, das interna­tio­nal bedeutende Berliner Sommer-Tanzfestival, fertig zu werden, findet eine öffentliche Aktion zum Fenstereinbau statt. Für den Rest des Lofts – inzwischen auf drei große Studios, ein Café und das Theater angewachsen – gelingt es, Firmen zu Vorleistungen zu überreden. Der Einbau der restlichen Fenster und der Heizungsanlage werden nicht bei der Bank, sondern bei Handwerksbetrieben abbezahlt.

Aber Banken zu überzeugen war spätestens im vergangenen Jahr angesagt. Der Mietvertrag lief aus, der Eigentümer wollte verkaufen. Und blieb mit seinen Forderungen fair. Die gemeinnützige GmbH des Dock 11 rang sich zum Kauf durch und fand mit der GLS-Bank sogar eine deutsche Bank, die den Kauf möglich machte.

Bereits 2009 konnte, nach langjährigen Bemühungen, zudem die Dependance Eden***** in Pankow eröffnet werden, wo auf einem parkähnlichen Grundstück mit Mitteln aus der Stiftung Deutsche Klassenlotterie mehrere Studiohäuser gebaut wurden, die Proberäume, Residenzapartments und eine Bühne bieten. Einzelne Künst­ler*innen, aber auch Universitäten und auswärtige Kultur­institute mieten sich dort ein.

Die Qualität der Studios ist unbestritten. Peter Pleyer, der Trainer, Choreograf und 80er-Jahre-Gay-Szene-Experte, der von 2007 bis 2014 die Tanztage in den Sophiensaelen leitete und auch beratend für das Dock 11 tätig ist, freut sich für die Szene: „Mit den Uferstudios und dem Dock 11 haben wir nun zwei hervorragend ausgestattete Probenorte im Norden der Stadt.“ Eine Konkurrenzsituation entsteht dadurch in Pleyers Augen jedoch nicht, dazu ist der Bedarf zu groß. Was nicht heißt, dass es keine Reibereien in der Szene gibt, mit vielen Überlebenskämpfern mit guten Ideen, die eine wachsende und hungrige Tanzszene im Rücken haben.

Wer wissen will, was es heißt, unter aktuellen Bedingungen Proberaum und Studios in Berlin anzumieten, erfährt dies beim Arbeitskreis Räume, einer spartenübergreifenden Initiative der freien Szene, die versucht, der inzwischen mehr als akuten Notsituation zu begegnen.

Dass der Tanz dabei noch verhältnismäßig gut dasteht, wie die Raumbeauftragte der Tanzszene Sonja Augard konstatiert, liegt an Initiativen wie dem Dock 11. Genauso wichtig ist dabei, dass der Tanz, der in Berlin produziert wird, nicht nur in den Studios bleibt, sondern auch den Weg auf die Bühne findet. Das Dock 11 ist Berlins einzige Bühne, die hundertprozentig dem Tanz gewidmet ist. Durch eine seit 2006 im Zweijahrestakt bewilligte Senatsförderung kann die Bühne ohne Zuzahlung an Künstler*innen angeboten werden und jede Produktion eine ganze Woche lang in den Aufführungsräumen proben, ein Luxus! Ob geflutet mit Wasser, gefüllt mit Erde, entkernt oder mit Tribüne, jedes Wochenende verwandelt sich das Theater in ein anderes Biotop. Das allseits gepriesene Technikerinnen-Team ist dabei ein wichtiger Faktor.

Der Community-­Faktor wurde im Dock 11 von Anfang an mitgedacht

Die Vielseitigkeit der Ausrichtung und der Umfang des Netzwerks des Dock 11 spiegelt sich auch im Programm des Theaters – von Butoh zu Konzepttanz, von polnischer Avantgarde oder der israelischen freien Szene zum Tanzfilmfestival Pool.

Manchen ist das zu vielseitig, sie vermissen das Profil. Man kann am Dock 11 sehr böse oder sehr gut von einer Aufführung überrascht werden. Eine Auswahl gibt es dennoch. Einerseits durch ein Netzwerk aus kuratorischen Berater*innen. Andererseits setzen sich die Mitarbeiter*innen für ihnen wichtig erscheinende Künstler*innen ein, indem sie sich für Beratung oder das Schrei­ben von Förderanträgen zur Verfügung stellen.

„Stildiversität“ ist dem Dock 11 dabei ein erklärtes Anliegen. Und zum respektvollen Nebeneinander der Ästhetiken sollen gleichwertige, nichthierarische Arbeitsverhältnisse kommen, von den Kurator*innen zum Raumpfleger. Hohe Ideale und Pragmatik – das scheint am Dock 11 kein Widerspruch, sondern Erfolgsrezept zu sein.