„Auf der Wippe dürfen Bürger dann direkte Demokratie spielen“

Das bleibt von der Woche Die märkische Kreisgebietsreform verletzt Brandenburger Gefühle, die Einheitswippe kommt doch, die BVG nimmt Rücksicht auf Graufahrer, und der Neuköllner Baustadtrat bremst Spekulanten aus

Ende der Canossa-Gänge

BVG wird digital

Die Menschheit entwickelt sich also doch weiter!

Der Autor ist gerührt: Dass er das noch erleben darf! Die BVG digitalisiert den Nachweis einer gültigen Zeitkarte, wenn man die bei einer Kontrolle in Bahn oder Bus versehentlich nicht dabeihatte! Die Menschheit entwickelt sich also doch weiter.

Zwar ist der unterzeichnete Redakteur schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr per Ausbildungsticket unterwegs (Semestertickets gab es erst später), aber die Erinnerung an Canossagänge zur damaligen BVG-Zen­trale am Kleistpark, später Fahrten in eine obskure Außenstelle am Tempelhofer Hafen ist noch frisch. Dort drehte man Däumchen und taxierte die Mitwartenden: Wer war schwarzgefahren, wer durch Vergesslichkeit in diese missliche Lage geraten?

Und jetzt? Kann jeder, der seinen „personalisierten Fahrschein“ nicht vorzuzeigen in der Lage war, diesen einscannen und auf bvg-ebe.de hochladen. Quasi vom WG-Küchentisch aus. Wer ein normales Monatskarten-Abo hat, dem ist damit leider nicht geholfen, der kommt auch nicht in der Genuss des „ermäßigten erhöhten Beförderungsentgelts“ von 7 statt 60 Euro. Bitter, aber die Weltrevolution lässt eben auf sich warten.

Wenn die BVG jetzt noch die Vorgabe aus der rot-rot-grünen Koalitionsvereinbarung erfüllt und den Zwang zum Vordereinstieg in ihre Busse aufhebt, könnte man sie glatt für kundenfreundlich halten. Das Am-Fahrer-vorbei-Gedrängel, während hinten gähnende Leere herrscht, nervt seit vielen Jahren – und die Verkehrsbetriebe haben gerade ohnehin angekündigt, die Kontrollen in Bussen auszuweiten. Das Argument, der Fahrscheinvorzeigezwang (der die meisten Fahrer nicht die Bohne interessiert) garantiere hohe Einnahmen, wäre dann hinfällig. Claudius Prößer

Kein Gefühl für Gefühle

Märkische Kreisreform

Ein Land ist eben mehr als ein mit Kennzahlen zu ­erfassender Betrieb

Rein zahlenmäßig ist das alles nachvollziehbar, was die rot-rote Brandenburger Landesregierung plant und was auch die heute oppositionelle CDU vor Jahren noch für gut zu halten schien: Angesichts sinkender Einwohnerzahlen im von der Fläche her größten ostdeutschen Bundesland, auch die Zahl von Behörden und Verwaltungsstellen zu verringern. Derzeit gibt es noch annähernd 2,5 Millionen Brandenburger, 2030 sollen es nur noch rund 2,25 Millionen sein, von denen sich immer mehr im boomenden Potsdam und im sonstigen Berliner Umland ballen.

Rein zahlenmäßig liegt es dann nahe, aus bislang 14 Kreisen und ihren Verwaltungen 11 zu machen und die bislang kreisfreien Städte Brandenburg, Cottbus und Frankfurt ihrem Umland zuzuschlagen. Sonst müssten immer weniger Einwohner gleichviele Beamte bezahlen.

Rein zahlenmäßig ein Land und seine Einwohner zu betrachten, lässt aber die Gefühlslage außer acht. Es sind ja nicht nur die auch jetzt schon nicht immer kurzen Wege zur zuständigen Behörde, die nach der Reform länger würden, und wo man sagen könnte: Ins Auto setzen müssen sich die Leute auf dem Land sowieso oft, da sind dann 20 Kilometer mehr alle paar Monate auch keine große Sache. Doch verschwindet die gewohnte Außenstelle der Behörde, hinterlässt das eben bei vielen Menschen ein Gefühl des Abgehängtseins. Ein Vor-Ort-Büro mit seinem Sachbearbeiter, so klein es auch sein mag, es symbolisiert den oft kritisierten, fern wirkenden Staat, gibt ihm ein Gesicht.

Viele Analysen des AfD-Wahlerfolgs in Mecklenburg-Vorpommern, einem Bundesland das ebenfalls mit sinkender Einwohnerzahl zu kämpfen hatte, zeigten, dass oft gerade solche Veränderungen die Leute der AfD in die Arme trieben. Auch das Mantra von der digitalen Zukunft ohne Behördengang hilft da nicht: Wer sich mit dem Computer ohnehin schwer tut, aber stets vorgekaut bekommt, dass das doch eigentlich alles so einfach sei, der fühlt sich gleich doppelt benachteiligt.

Um zu verhindern, dass Brandenburg zur „angeschlossenen Landschaftspflege“ von Berlin wird, wie es der frühere Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) mal ausdrückte, müsste eine Landesregierung die Leute vielmehr dafür belohnen, auch in abgelegenen Region wohnen zu bleiben, statt sie durch Behördenabzug und weite Wege zu bestrafen. Natürlich kostet das pro Kopf zunehmend mehr. Aber ein Land ist eben mehr als ein mit Kennzahlen zu erfassender Betrieb – seine Seele zu pflegen, hat seinen Preis. Stefan Alberti

Die Demokratie im Wippspiel

Einheitswippe im kommen

Nach dem ganzen Hin und Her endlich was, an dem man sich festhalten kann

Wenn dann dereinst der neue Hauptstadtflughafen tatsächlich abflugbereit und fix und fertig sein sollte, tut man vielleicht gut daran, gleich an jenem Tag, zur Erinnerung an dieses doch geschichtsträchtige Ereignis, ein Denkmal zu errichten.

Man könnte es zum Beispiel da aufstellen, wo sich bereits eine Menge an Geschichte und ihren Erinnerungen daran ballt, im Herzen der Stadt: auf dem Schlossplatz.

Dort, das entschied nun der Bundestag in der Nacht zum Freitag einmal mehr, soll jetzt tatsächlich auch das Denkmal für Freiheit und Einheit gebaut werden. Ein Schlussstrich einer Debatte, der ein jahrelanger und zäher Diskussions- und Entscheidungsprozess vorausging mit viel hü und hott, dass man der Sache samt der Diskussion darum – wie beim BER – durchaus müde werden konnte. Und sich schon deswegen freut, dass endlich eine Entscheidung steht mit der Perspektive, dass die tatsächlich auch umgesetzt wird.

Denn jetzt soll es, nachdem der Bundestag bereits 2007 und 2008 für das Einheitsdenkmal votiert hatte, das dann im Frühjahr 2016 vom Haushaltsausschuss aus Kostengründen gestoppt wurde, jetzt also soll es ganz schnell gehen: Noch vor der Bundestagswahl im Herbst soll das Projekt auf den Weg gebracht werden. Eingeweiht werden soll es im Herbst 2019, am 30. Jahrestag des Mauerfalls.

Nach dem ganzen Hin und Her ist so viel Sollen also doch was, an dem man sich festhalten kann. Schön. Deswegen aber nicht gleich gut. Von einer wirklichen Begeisterung will man jedenfalls nichts spüren, was durchaus mit dem Denkmal selbst zu tun hat, seiner geplanten Form als große begehbare, bewegliche Waage. Die Einheitswippe. Die Bürger finden die nur eher mäßig. In einer Umfrage im Mai dieses Jahres meinten noch die Berliner mehrheitlich, dass sie ihnen nur „weniger gut“ oder gleich „gar nicht“ gefalle.

Motto der Wippe ist „Bürger in Bewegung“. Auf ihr dürfen die Bürger dereinst dann direkte Demokratie spielen. Je nach Mehrheitsverhältnissen kommt die Wippe in Bewegung und neigt sich einer Seite zu. These, Antithese. Mit der Erkenntnis, dass es auf diesem Wippspiel halt nur ein Hin und Her gibt, ohne dass sich wirklich entscheidend was ändert. Im Unterschied zu den historischen, für DDR- wie BRD-Bürger einschneidenden Entwicklungen von 1989/90.

Schlossfreiheit hieß mal der Platz, wo die Wippe stehen wird. Man könnte ihn wenigstens, so selbstbewusst wie bescheiden, ohne schaustellerisches Protzen, in Bürgerplatz umbenennen. Thomas Mauch

Bitte mehr Risiko eingehen!

Neuköllner Vorkaufsrecht

Und irgendwann ist der Stadtsäckel dann schneller leer als gedacht

Das bezirkliche Vorkaufsrecht zieht immer neue Kreise. Nach Friedrichshain-Kreuzberg will nun auch Neukölln versuchen, den Verkauf der Liberdastraße 10 an einen Investor zu stoppen. Weil der sich weigert, auf eine mögliche Umwandlung in Eigentumswohnungen zu verzichten, soll das Haus stattdessen an die landeseigene Stadt und Land gehen. In einem Milieuschutzgebiet, wozu die Liberdastraße gehört, sind Verkäufe von Grundstücken genehmigungspflichtig, soll heißen: Der Bezirk kann sie schlicht stoppen, wenn sie den Zielen des Milieuschutzes widersprechen.

Die Ankündigung des Bezirks, dies zu tun, ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine gute Nachricht. Einmal weil der neue, grüne Baustadtrat Jochen Biedermann offenbar entschlossen ist, auch in Neukölln eine Wende in der Wohnungspolitik herbeizuführen. Bislang galt ja, dass sich Neukölln, etwa mit der Ausweisung von Milieuschutzgebieten, schwerer getan hat als andere Innenstadtbezirke.

Gut ist die Nachricht überdies, weil der Kaufpreis, ein niedriger einstelliger Millionenbetrag, wie es heißt, für die Stadt und Land wirtschaftlich im Bereich des Möglichen liegt.

Aber genau an dieser Stelle beginnen die Fragen. Würde die Stadt und Land oder eine andere landeseigene Gesellschaft auch dann in einen solchen Kauf einsteigen, wenn der Kaufpreis deutlich überhöht ist? Wenn ja, so steht zu befürchten, ist es auch die öffentliche Hand, die zur Preisspirale bei Grundstücksverkäufen beitragen könnte. Wenn sich herumspricht, dass die landeseigenen Gesellschaften jeden Preis zahlen, dann wäre jeder Verkäufer blöd, nicht noch ein paar Mil­lionen an Forderungen draufzupacken. Und irgendwann ist der Stadtsäckel dann schneller leer als gedacht.

Eine Erfolgsgeschichte kann das Vorkaufsrecht also nur werden, wenn die Preise den Verkehrswert eines Mietshauses nicht übersteigen. Genau das aber hat das Landgericht im Fall der Großgörschenstraße in Tempelhof-Schöneberg nicht durchgehen lassen. Doch rechtskräftig ist das Urteil noch nicht. Deshalb kann die Devise nur lauten: Wenn ein Kaufpreis zu hoch ist, soll der Bezirk den Verkehrswert ermitteln und den Kaufpreis senken. Ein Risiko, gewiss. Aber um eine Klärung der Rechtsmäßigkeit dieses Instruments kommt Berlin ohnehin nicht herum. Uwe Rada