ZEIT.ORTE

Holger Tegtmeyer, geboren 1964, lebt als freier Autor in Neukölln. Buchveröffentlichungen: „Es könnte Steine regnen oder Bomben“ (1999) und „Literarische Streifzüge: Berlin“ (2008). Sein literarisches Blog heißt „Texte und Tage“ (seit 2015). Tegt­meyer, der derzeit an den Reisetagebüchern einer Deutschlandwanderung aus dem Jahr 1994 arbeitet, ist Anhänger der alten Rechtschreibung. holgertegtmeyer.wordpress.com.

Lichter Moment

Holger Tegtmeyer

Es ereilt mich beim Abspülen des Geschirrs und ich gerate hinein. Gedanken und Bilder kommen. Ich versuche, in ihnen auszuhalten. Vor dem Küchenfenster spreizt sich das Farnkraut und öffnet sich der Sonne. Der Innenhof ist lichtgesprenkelt, es ist windstill, die Zweige der Birke bewegen sich nicht. Da steht seit Tagen ein Fahrrad mit einem Anhänger für den Transport kleiner Kinder oder Hunde, ein Croozer. Sie stehen dort seltsam verdreht. Dazu denke ich mir eine Geschichte aus, die mit dem Satz beginnt: Es ereilt mich beim Abspülen des Geschirrs und ich gerate ­hinein.

Den Abwasch zögere ich hinaus. Die Gläser, Tassen, Teller, Töpfe sollen auf mich warten. Geduldig stehen oder liegen sie in ihrem Schmutz. Endlich berührt mich ihr Anblick so sehr, daß ich mich durch sie erlöse. Ein ekstatischer Moment. Das Glück liegt in den kleinen Verrichtungen, las ich kürzlich. Eine Berühmtheit sagte das, ein Schauspieler oder Moderator. Er hatte eine schwere Erkrankung überlebt und wußte nun, daß es die kleinen Dinge sind, an die man sich halten soll.

Hier ist die Stadt, dort draußen irgendwo liegt schweigend das Land. Manchmal fehlen die Felder, ich vermisse Gerüche oder möchte dringend in den Wald. Als könne der mich besser aufnehmen und lassen. Hier fehlt die Basis, denke ich in solchen Momenten. Nicht die Gebäude und das technische Gerät allein, auch die Bewohner wirken hingestellt wie Figuren auf einer Spielbühne für diese eine Saison. Wie schnell sie sprechen, wie beschleunigt sie handeln. Als müßten sie sich beeilen, da das Stück gleich zu Ende ist. So als werde man nie gewesen sein.

Mit Blick auf die Farne, die stille Birke und das Rad mit dem Marken-Anhänger stehe ich am Spülbecken und fühle, daß ich in der engen Stadt geborgener bin als dort draußen in der schrecklichen Ferne zwischen den Bäumen und Gräsern unter dem großen Himmel, aus dem herunterfällt, was zum Leben nötig ist. Ich lief als Kind bei Gewitter aus dem Haus und applaudierte dem Donner. Die Blitze zuckten unter Krämpfen der Entladung blutbahnmäßig über die grauschwarze Fläche und schlugen irgendwo ein. Was für ein Spektakel. Im Stall waren die Tiere unruhig, im Haus die Menschen. Mein kleiner Bruder versteckte sich unter der Bettdecke, dort war er sicher.

Heute fürchte ich mich vor Gewitter und gehe nicht mehr vor die Tür, wenn von Westen die Gewitterfront anrückt. Erst ein fernes Grummeln, dann der Beschuß. Zuvor die aufgeladene Luft, unaufhörlich wachsende Spannung. Endlich knallt es, plötzlich und laut wie Befürchtetes. Auf dem Land beobachteten sie bangen Blickes die Überfliegungen der schweren Bombengeschwader und wußten, die entladen ihre Last über Hannover. Helle Nächte waren das, man sah das Leuchten einer tödlich getroffenen Stadt, noch in fünfzig Kilometer Entfernung. Mein Vater war ein kleines Kind, als er abends oder nachts dieses Leuchten sah. Da brennt Hannover, sagte meine Großmutter zu ihm.

Warum sich vor Gewitter fürchten – die Blitze suchen nicht. Vor ein paar Jahren saßen wir spät nachmittags unter dem großen Dach „der Niere“, der Hasenschänke in der Hasenheide. Da kam ein Wind auf und führte vor, was ein Sturm mit Bäumen macht. Äste krachten zu Boden und schlugen auf den Kies. Wir blieben unter dem Dach, um nicht erschlagen zu werden. Der Sturm wirbelte den Sandstaub auf, die Papierreste und den Abfall, ein paar der stapelbaren Plastikstühle rutschten über die Freifläche. Dann kam der Regen. Wir waren geschützt und tranken helles Bier. Um uns wütete eine Macht, die nichts will, sondern muß.

Jetzt wird es Nacht. Noch kreisen die Mauersegler und schneiden wie Sicheln die Luft. Sie singen ihr Lied vom Fliegen. Bleibe an einem Ort und warte – dann kommt das Leben zu dir. Ich habe das im Wald gelernt, an einen Stamm gelehnt, sitzend. Ich habe mich kaum bewegt, nicht geredet, denn ich war allein. Nach einer halben Stunde kamen die Tiere zurück. Sie waren gewarnt worden, ich war der Eindringling. Jetzt gehörte ich dazu, still wie ich dort saß, an einen Baum gelehnt, mit nichts beschäftigt als dem Sehen und Hören. Da ich nun einmal dauerhaft dort saß, gehörte ich dazu. Später habe ich dieses Experiment wiederholt, hier in der Stadt, mich auf eine Bank gesetzt oder an den Rand eines Brunnens auf einem Platz. Es dauerte gar nicht lange.

Es stellt sich ein, wenn man es läßt. Man darf ihm nicht nachlaufen. Lautes Unruhigsein verscheucht die Wesen. Das gilt hier wie dort. Die Bereiche sind nicht streng getrennt, sondern fassen ineinander. Die Sehnsucht zeigt mir, daß ich nicht vergessen habe, woher ich komme und was es mir bedeutet. Ich bin hier wie dort – wollte ich eben sagen, doch das stimmt nicht. Ich bin hier und zugleich auf andere Weise dort, und was ich dort gelernt habe, ist nun auch hier. Ob und wie das funktioniert, fragte ich mich vorhin beim Abwasch mit Blick in den Hof und auf das, was dort steht. Schlimmstenfalls ist es hier so schlimm wie dort, dachte ich. Aber die Farnwedel erinnerten mich an ältestes Leben, das sich entfaltet und zu zeigen vermag und die Sonne begrüßt, ein mächtiges Zeichen.

Es muß nicht gut sein, das ist nicht seine Aufgabe. Niemand braucht Lügen. Zur Not hält man es aus. Es ist das Leben und das aller anderen, eine Wesenheit besonderer Art. Ich forsche ihr nach wie ein verschmähter Geliebter, wie ein ängstlicher Jäger vielleicht. Ich muß es stellen, sonst stellt es mich. Das Spülbecken ist ein heroischer Ort.