Zeit.Orte

Lotus Fluidum

Jean Paul Baeck, 1983 in Dahn geboren, wuchs im rheinland-pfälzischen Klingelbach auf. Durch einen Theaterbesuch positiv erschüttert, floh er zur Jahrtausendwende nach Köln, verschrieb sich dem Theater und abiturierte. Von 2006 bis 2010 studierte er Schauspiel an der Universität der Künste in Berlin. Zurück in Köln schloss er sich mit seinem Bruder und dem Regisseur Thomas Ulrich zu dem freien Theaterensemble Acting Accomplices zusammen. Gegenwärtig arbeitet er an seinem ersten Roman sowie dem Kurzgeschichtenband „Lichtung“, dem auch diese Geschichte entnommen ist.

Jean Paul Baeck

nun sitze ich also hier auf dem Sofa in dieser Kneipe, denke sie kommt nicht, werde gerade froh darüber, und dann setzt sich wer neben mich, als ich die Augen gerade einen Augenblick geschlossen halte und besser so denke, und mich endlich etwas entspanne, und mich selbst auch etwas belächle, von der gegenüberliegenden Seite des Fensters aus und von der Straße, von wo aus ich mich einen Augenblick lang betrachte, und den Kopf darüber schüttle, dass ich da ja immer noch sitze, doch tatsächlich immer noch dasitze, mit geschlossenen Augen und daran denke, wie ich einmal dachte, dass sie käme, und das Denken dann aber einstelle, und die Augen dann auch wieder öffne, weil ich spüre, dass sich da ja jetzt ganz unvermittelt und unvermutet wer neben mich setzt. Und als nächstes sehe ich dann ihr Gesicht, ihr Gesicht im Schein dieses irrsinnig roten Lichts von dieser Lampe, die da steht, die da auf einem kleinen Beistelltisch gleich neben dem Sofa steht. Und ihr Gesicht nun, rotumleuchtet von eben dieser Lampe, schwebt da jetzt so leicht etwas über mir, schwebt über mir wie eine Sonne, weil ich schon ganz eingesunken bin in dieses grüne durchgelegene Sofa. Und da sehe ich sie. Und obwohl ich mir vorgenommen habe mich zusammenzunehmen und zusammenzuhalten was es da eben so alles in mir zusammenzuhalten gibt, verliere ich den Halt die Haltung, meine inneren Koordinaten, die Ordnung also den Boden unter den Füßen, den Raum den Ort die Zeit, eben das ganze Konstrukt von Kommata und Syntax nicht zuletzt den Zusammenhang und sie sagt HEY und nicht nur hey sondern auch ICH WARTE SCHON DIE GANZE ZEIT und da saßen wir beide hier und haben uns nicht gesehen – wie undenkbar sie nicht zu sehen – und sie wurde auch schon langsam sauer sagt sie ist es jetzt aber nicht mehr WEIL DU BIST JA JETZT HIER sagt sie – also nicht Du sondern ich – und ich denke sofort wo sollte ich denn auch anderswo sein denn ich habe ja ebenso gewartet wie sie – aneinandervorbeigewartet sozusagen – und obwohl ich erschrocken bin oder gerade weil ich erschrocken bin – vielleicht hineinversetzt in eine Art Schockstarre eine Schockstarre wegen ihrer zwar erwarteten aber doch irgendwie auch unerwarteten Anmut – schaue ich sie mit weit aufgerissenen Augen an – irgendwie unangemessen und beinahe wohl schon etwas zu lange – und ich richte mich auf und denke voila und dann neinneinnein das reicht nicht aus und ich muss ganz aufstehen sie in Empfang nehmen also begrüßen mich hinauf zu ihr biegen während ich merke dass ich irgendwie angeschlagen nicht ganz bei mir vielleicht müde unsagbar müde bin – und ich spüre meine Zunge im Mund unwahrscheinlich groß und trocken und schwer und ich denke an ein Reptil eine Ringelnatter vielleicht oder eine Eidechse so ein Ding eben das sich häutet immer mal wieder häutet das sich auf diese Weise immerzu selbst überdauert sich immerzu aufs Neue selbst überwindet in der glühenden Hitze einer roten Sonne irgendwo im Nirgendwo auf einem Felsen auf einer Straße oder im Sand – bis es weitergeht und es geht weiter weiter mit einem Lächeln das sich irgendwie ganz taub ganz fiebrig ganz warm von der Seite her in mein Gesicht schiebt und dann löst sich meine Zunge aus ihrem Bett zäh klebrig träge und trocken hebt sie sich an und richtet sich auf während meine lang versiegelten Lippen sich voneinander lösen und damit beginnen auseinanderzudriften und mein staubiger vergessener Mund sich öffnet sodass auch ich endlich etwas sage und auch ich sage HEY und gucke gucke vermutlich wie ein Chamäleon von oben auf sie hinunter vielleicht von einem trockenen Zweig auf dem ich balanciere sehe ich zu ihr hinunter und sehe aber dass sie sitzt während ich ja da jetzt über ihr auf diesem Ast balanciere oder eben einfach nur stehe ich balanciere also oder ich stehe und sie sitzt sitzt einfach nur da sitzt geradezu unvernünftig schön sitzt sie da und ihr linker Arm ruht geradezu ungeniert inszeniert ausgestreckt auf der abgewetzten Rückenlehne des Sofas und ich denke mir säße ich nun dort und stünde nicht jetzt hier oder balancierte nicht ganz unnützerweise auf diesem Zweig über ihrem Kopf wie etwas das es eigentlich gar nicht gibt dann läge ihr Arm der läge dann vermutlich beinahe um meine reptilenen Schultern ---

ich hole Luft setze mich wieder neben sie lehne mich gegen das widerspenstige Gefälle des Sofas etwas schräg nach vorne rechts und breite meine Arme aus – ganz unwahrscheinlich schwer sind diese Arme als gehörten sie nicht zu mir – breite also diese fremdartigen schweren Arme aus um sie zu begrüßen um sie zu umarmen weil es dafür ja jetzt irgendwie an der Zeit ist weil man das halt so macht und dann uns umarmend und Wange an Wange und innehaltend dann rast für einen kurzen schrillen ohrenbetäubenden Augenblick ein Hochgeschwindigkeitszug durch den Raum durch die Bar mitten über den abgewetzten Dielenboden und so nah an meinem linken Ohr und an meinem Herzen vorbei dass ich hiernach wohl lange nichts anderes mehr hören und fühlen werde als das hohe Kreischen von Metall auf Metall aber da lösen wir uns auch schon wieder voneinander und der Zug und das Kreischen reißen abrupt ab und ich höre auch sofort wieder die Musik so ein watteweiches Geklimper als befänden wir uns jetzt und auf einmal und Hals über Kopf irgendwo dazwischen und in der Schwebe in einem Aufzug von Ebene zu Ebene musikumsäuselt aber hineinversetzt in stille Erwartung in stiller Erwartung des Erreichens irgendeiner Etage während sich unsere Blicke treffen und sich ineinander graben und sich verschlingen und unlösbar ineinander verfangen über den Spiegel in diesem Aufzug in dieser Bar in diesem Etablissement der scheue der starre der linkische Blick einer Echse hypnotisiert und dingfest gemacht vom Menschlichen vom Bewussten vom Unnachgiebigen Blick einer Frau aber davor also PENG oder BAM und alles und nichts war wieder wie jemals zuvor und ich schaue sie an schaue hin zu ihr wie zu einer kosmischen Offenbarung und meine Lippen werden ganz taub und meine Hände und überhaupt meine ganze Haut während ich so zu ihr hinschaue und verzweifelt versuche das aufgescheuchte Kreiseln meiner Pupillen zu unterbinden ---

und dann dann ist es soweit und was für ein Glück ein Gespräch entspinnt sich ein Gespräch zwischen Mensch und Reptil geradezu kindisch geradezu schwerelos geradezu unerwartet geradezu leicht und sie schwebt heran zu mir und hebt mich auf mit ihren Worten mit ihren zu einer Schale geformten Händen hebt sie mich auf von der Straße oder dem Sand oder dem Felsen da hebt sie mich auf während sie redet und redet und redet so dies und das halt und spricht und sagt und plaudert und hin und wieder lacht sie auch und erzählt und hält inne und überlegt und fährt fort oder trinkt einen Schluck oder wickelt Haare um die Finger und schaut und sieht und blickt auf den Boden während irgendein Gedanke oder Einfall oder Zauber ihr die Wangen rötet gutgelaunt und fröhlich und besonnen in jedem Falle aber unbesonnen schön und ich ich sitze da sitze halt einfach nur irgendwie so da um ihr hin und wieder zuzulächeln mit dem Wunsch mich auszuziehen zu entkleiden mich zu häuten mich aus mir herauszuschälen und mich nackt in ihre Schönheit zu geben in ihrer Schönheit zu baden und sie mir überzuziehen wie eine neue ganz ungewohnte uneigene Haut um mir so ihre Schönheit anzuverleiben sie zu reflektieren sie als meine zu tarnen und wieder zu ihr zurückzuspielen während hinter öffnenden und schließenden Lippen ihre Zunge tanzt und springt und formt und hüpft und ihr Atem unermüdlich Worte schöpft und redet und ich lauschend versuche das alles zu verstehen was sie sagt zu begreifen zu erfassen zu ergründen nachzuvollziehen auf die Inhalte und Zusammenhänge zu achten Buchstaben zu Worten zu Sätzen zu Absätzen miteinander zu verbinden und zu verknüpfen mich mit ihr sie mit mir zu verknüpfen die Syntax wiederzufinden und all das Rätselhafte und Unbegreifliche und Unerklärliche zu lösen ihre Worte und ihre Sätze und ihr Lachen und ihre schillernden Laute zu entwirren und zu entheddern und zu entknoten und ich bekomme ein seltsames Gefühl im Kopf bei Alledem während ich so unaufhörlich fühle und lausche und sehe denn je länger ich sie betrachte desto mehr zieht es mich anderswohin zieht es mich in die Ferne unter diese rote immerglühende Sonne eben wieder in den Sand oder auf den Felsen oder die Straße eben irgendwohin wo es keine Worte gibt oder Sätze oder Maschen oder ein aus roten Fäden gehäkelter Sinn wo Worte und Sätze und Absätze und Syntax und Kommata ganz und gar nicht existieren und dann kann ich sie einfach nicht mehr nicht ansehen bis ich merke dass ich ja gar nicht mehr atme und erst nervös blinzle und den Kopf dann leicht zur Seite neige damit ich umbrandet vom schillernden Glanz meiner Schuppen woanders hinschauen kann um wieder Luft zu bekommen Atem zu holen und meinen Puls meinen Herzschlag meinen inneren Rhythmus dieses aufbegehrende begehrende Rasen und Trommeln und Hämmern in meiner Brust wieder einzudämmen um sie dann wiederum anzusehen und wieder in diesen luftleeren Raum zu entschwinden abermals am Glanz ihrer Oberfläche herabzuperlen und zu versiegen ---

und so währt alles eine Weile so flüstert sie sich immerfort in meine Sinne auf eine sanfte und unbeständige und wage Weise mit ihrer Stimme über das vibrierende Fell meiner Ohren in meine Sinne und durch meine Sinne bis in die letzten Winkel meiner Nervenstrenge leise mit sanfter mit samtigweicher mit geschmeidiger Stimme wie ein Narkotikum beständig in mein Inneres tröpfelnd mich besänftigend mich betäubend während sie spricht und redet und plaudert und es dauert ewig lange und vergeht schneller als im Flug und ist kaum da es begonnen hat auch schon wieder zu Ende und als sie dann wieder geht – denn jeder geht ja irgendwann wieder irgendwohin an einen Ort den es gar nicht gibt – hinterlässt sie nichts nicht einmal mich und meine Lippen wachen wieder auf meine Hände und meine neue frischgewobene Haut und ich stehe auf stelle mich auf meine beiden wiedergefundenen Beine und beginne dem Gleis zu folgen mit den Schienen hinaus aus der Bar und über die Straße und weiter und darüber hinaus und immer geradeaus und hinunter und hinauf und mein Mund lächelt ganz krumm und geradezu immer bis die Stadt hinter mir liegt hinter mir in der Dunkelheit wie ein Schwarm sich abwärts blinkender Lichter während ich immer tiefer und weiter und fort in das lustige Flüstern der Gräser und Steine und Zweige unter meinen Füßen gelange nur mit dieser einen und noch ganz nebensächlichen Hoffnung in mir wieder zur Besinnung zu finden und mich zu erinnern und gleichermaßen zu vergewissern was oder wer ich jetzt nach ihr und ohne sie eigentlich.