Hamburg stellt neue Blitzer auf, und die Autofahrer fühlen sich in ihrer Freiheit beschnitten – wen scheren schon die Tausenden Verkehrstoten
: Der Deutsche möchte am liebsten niemandem gehorchen

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Einer, der sich „dummes Zeug“ nennt, sagt „1984 kommt näher“, und weiter „Ich kann mich nicht erinnern, in einem Staat zu leben, in dem ich zu gehorchen habe!“ Es ist schön, dass es die Kommentarfunktion gibt. Auf diese Weise kann man erfahren, was die Leute von den Dingen halten. „Aber natürlich wird mal wieder nichts getan gegen Rad-Raser“, meint ein anderer und fragt sich zudem, warum diese Radfahrer keinen Verbandskasten und kein Warndreieck „an Bord“ habe müssen.

All dies kann man zu einem Beitrag des NDR zum Thema Geschwindigkeitskontrollen lesen. In Hamburg gibt es fünf neue „Tempofallen“, so drückt der NDR es aus. Und so werden sie angesehen, als Fallen, in die der ohnehin gebeutelte Autofahrer tappt, der einfach nur zu schnell fährt, mein Gott.

Zu schnell fährt eigentlich jeder mal. Und vor allem Radfahrer fahren zu schnell. „Aber natürlich wird mal wieder nichts getan, gegen Rad-Raser.“ Natürlich nicht. „Und ich warte auf den Tag, an dem die Geschwindigkeit von oben durch Drohnen gescannt wird.“ Ja, so sieht 1984 aus. 1984 ist ein Begriff geworden, für alles, was irgendwie nach Überwachung aussieht.

„Ich kann mich nicht erinnern, in einem Staat zu leben, in dem ich zu gehorchen habe!“ Echt nicht? Ich schon, ich kann mich relativ gut daran erinnern, und ich habe „1984“ sogar echt gelesen. Alle Wörter, von der ersten bis zur letzten Seite. In der Nähe meiner Wohnung steht eine der neuen „Blitzersäulen“, in die Hamburg investiert hat. Die kosten übrigens jeweils 100.000 Euro.

39 Anlagen sind mittlerweile fest installiert. Im vergangenen Jahr haben sie der Stadt Buß- und Verwarngelder in Höhe von 6,42 Millionen Euro eingebracht. Die Geschwindigkeit wird mithilfe eines Lasers gemessen, und die Säulen sehen irgendwie schick aus, futuristisch. Die Säulen stehen an Stellen, wo die Leute häufig zu schnell fahren. An der Wandsbeker Chaussee zum Beispiel. Seit ich da wohne bin ich Zeuge vieler Unfälle geworden.

Statistisch kommt alle 2,5 Stunden ein Mensch im Straßenverkehr ums Leben, ungefähr ein Drittel durch zu schnelles Fahren. Wenn also so viele Menschen durch zu schnelles Fahren ums Leben kommen, warum fahren dann Menschen zu schnell? Weil sie es nicht zu schnell finden. Oder weil sie eben selbst entscheiden wollen, was zu schnell ist.

Sie glauben nicht, dass, wenn sie schneller fahren, als es ihnen auf einem Schild vorgeschrieben wird, das zu schnell ist. Das Schild kann ja nicht wissen, wie die Lage ist. Das Schild kann auf die Situation gar nicht eingehen. Der Autofahrer, der Bürger, möchte selbst die Lage einschätzen und entscheiden können, was zu schnell und was angemessen ist. Besonders im Straßenverkehr, wo der Mensch die ganze Verantwortung trägt, möchte er respektiert werden.

Im Beruf ist er vielleicht eine arme Sau, muss er sich vom Chef demütigen lassen, aber er ist immer noch der Herr in seinem kleinen Blechhause. „Ich kann mich nicht erinnern, in einem Staat zu leben, in dem ich zu gehorchen habe.“ Gehorchen möchte er also nicht. Frei sein, auf freien Straßen. Nirgends möchte der Deutsche freier sein, als beim Autofahren. 3.280 Menschen starben 2016 in Deutschland im Straßenverkehr, 200 weniger als 2015. Das freut den ADAC. Man stelle sich vor, 3.280 Menschen stürben durch eine Bevölkerungsgruppe, die von vielen als fremd oder anders angesehen wird. Man stelle sich vor, diese Gruppe von Menschen fühlte sich durch Kontrollen ihres Verhaltens vom Staat gegängelt. Wie würde das wohl ankommen? Und nicht zu vergessen, bei allem, was den Straßenverkehr angeht: „Aber natürlich wird mal wieder nichts getan gegen Rad-Raser!“

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.