Wir wähnten uns lange in Sicherheit

ATHEN taz | Politik habe ihr früher fern gelegen, sagt Lila Bellou. Sie war ein typisches Kind der griechischen Wohlstandsgeneration aus den neunziger Jahren: Jurastudium in Athen, Nachdiplomstudium in Online-Recht in Frankreich, die Karriere fest im Blick. So erging es vielen ihrer Freunde und Kommilitonen.

„Politik war kein Thema bei uns an der Uni. Anders als die Generation unserer Eltern haben wir ja keinen Bürgerkrieg erlebt und auch nichts mitbekommen von der griechischen Militärdiktatur, die 1974 zu Ende ging“, erinnert sich die 30-jährige Anwältin. „Lange Zeit haben wir uns in Sicherheit gewähnt und der Illusion hingegeben, es gebe gut bezahlte Jobs für alle, es könne nur aufwärtsgehen im Land.“ Politik und Medien hätten alles getan, um diesen Eindruck zu verstärken, sagt Bellou: „Ende der neunziger Jahre trat Griechenland der Währungsunion bei und bekam zudem noch den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2004. Uns schien alles möglich.“

Seit 2007 führt sie ein gemeinsames Anwaltsbüro mit drei Kollegen in der Athener Innenstadt. Doch 2008 begann die Krise mit ersten Einkommenskürzungen, ihre großen Hoffnungen wurden enttäuscht. „Ab 2009 gab es kein Halten mehr: Hunderttausende verloren ihren Job, Mandanten ließen auf sich warten.“ Im Mai 2010 ging Bellou erstmals auf die Straße, um gegen die Sparmaßnahmen der damaligen sozialistischen Regierung zu protestieren. Sie erlebte gleich einen Schock: „Am Demonstrationstag attackierten Vermummte eine Bankfiliale mit Molotowcocktails. Drei Menschen kamen dabei ums Leben. Eine Kollegin von mir war befreundet mit einem der Opfer.“ Auch am vergangenen Mittwoch war sie dabei, als das Parlament ein Mammutsparpaket für den öffentlichen Dienst mit knapper Mehrheit billigte. Man müsse einfach Flagge zeigen, sagt sie: „Es wäre leichtfertig und irgendwie auch engstirnig zu sagen, gut, ich arbeite nicht für den Staat, mich geht die Sache gar nichts an. Ich finde, wir haben lange genug unser politisches System mit Gleichgültigkeit bestrafen wollen und dabei nicht viel erreicht.“

Am meisten empört Bellou die umfassende Deregulierung des Arbeitsmarktes, die das griechische Parlament in der vergangenen Woche im Eilverfahren billigte – auf Druck der internationalen Gläubiger, wie es hieß. So etwas könne man nicht einfach hinnehmen, findet die junge Anwältin, denn hier ginge es um Fundamentalrechte, um die viele Generationen hart gekämpft haben: „Dass der Staat einfach den Mindestlohn abschafft, will mir nicht in den Kopf und widerspricht auch allem, was ich an der Uni gelernt habe. Mich wundert vor allem, dass Europa so etwas zulassen will“.

JANNIS PAPADIMITRIOU