NACHTS UM HALB EINS
: Kreuzberg totenstill

Schon um Mitternacht ist es hier wie in Stuttgart

In der Postannahmestelle, die sich in einem kleinen Zeitungsladen in der Graefestraße versteckt, fragt mich die Postannahmefrau, ob ich der wäre, der ein Buch über das Viertel hier geschrieben hätte. O Gott, denke ich, mein Incognito ist aufgeflogen. Jetzt kann ich nicht mehr einfach durch die Gegend laufen und das Verhalten der Menschen studieren. Denke ich natürlich nicht! Falls Sie das gedacht haben sollten. Aber das wäre ein guter Einstieg gewesen, um zu behaupten, dass ich mich jetzt nur noch nachts auf die Straße wagen kann, um meine Forschungen zu betreiben. Aber da gibt es nichts zu erforschen. Schon um Mitternacht ist es hier wie in Stuttgart. Die Bürgersteige sind hochgeklappt. Nicht ein einziger einsamer Tourist läuft mir über den Weg.

Ich gehe am Maybachufer entlang. Totenstille. Dann über die Kottbusser Brücke. Vor der Ankerklause tut sich nichts. Nur ein Mann lehnt am Brückengeländer und guckt hinunter aufs Wasser. Er kotzt.

Auf dem Kottbusser Damm ist auch nichts los. Vor einem türkischen Spätkauf sitzen noch drei junge Männer und trinken schweigend Jägermeister und Bier. Nur die Gemüse- und Obsthändler auf dem Kotti halten die Stellung. Der Stand ist beleuchtet, und die Auslage sieht schön aus. Aber die drei Verkäufer sind allein. Nicht ganz. Ein Penner liegt dick eingemummelt in einem Hauseingang. Drei betrunkene Jurastudenten wanken aus der U-Bahn und streiten sich darüber, wo es das billigste Bier gibt. Das Rennen macht ein tschechisches Bier für 39 Cent. Nicht mal die Alkoholiker und Drogenabhängigen, die sonst den Platz bevölkern, sind da. Ich frage mich, wer um diese Zeit noch Obst und Gemüse kauft. Vielleicht alkoholisierte Nachtschwärmer, die aus der U-Bahn kommen, mit letzter Kraft zum Stand robben und röcheln: „Schnell, ich brauch einen Schuss Vitamine!“? KLAUS BITTERMANN