Überholen, ohne einzuholen

Rund 40.000 Sportler liefen gestern den 32. Berlin-Marathon. Ihre Fans, Familien und Freunde feuerten sie euphorisch an. Viele versuchten, ihren ganz persönlichen Star so oft wie möglich auf der Strecke zu sehen – und folgten ihm mit der U-Bahn

Von Andreas Rüttenauer

Gleich müssten sie kommen. Wenn seine Prognose stimmt, dann braucht er für einen Kilometer fünf Minuten. Nicki und Steffi stehen an der Kreuzung Chausseestraße/Torstraße, bei Kilometer acht des Berlin-Marathons, und warten. Es ist zehn Uhr. Nicki hält ein Schild hoch: „Lars“. Auf Steffis Pappe steht „Arne“. Die beiden Herren wollen sich an diesem Tag einen Traum erfüllen und einen Marathon bewältigen.

Tausende von Menschen wälzen sich an den beiden vorbei. Kurz nach dem Start ist die Läufermenge derart dicht gedrängt, dass eigentlich nur die unvermeidlichen Witzbolde als Einzelpersonen zu erkennen sind. Zwei Wikinger, ein Mann in Polizeiuniform, ein Paradebayer in weiß-blau rautiertem Pyjamalook. Aber wo sind Arne und Lars? Steffi telefoniert. „Die sind schon bei Kilometer zehn“, berichtet sie. Mist. Übersehen. Vielleicht wäre eine Kostümierung doch nicht schlecht gewesen. „Ich war ja für rot gefärbte Haare“, meint Nicki. Zu spät.

„Jetzt haben wir aber erst mal Zeit“, meint Jörg. Er begleitet die beiden Frauen. Jörg hat bereits Erfahrung als Mann am Straßenrand. Im vergangenen Jahr ist ein Freund von ihm den Marathon gelaufen, er war als Fan dabei. Jetzt lotst er Nicki und Steffi in die U-Bahn: „Wir müssen zur Grunewaldstraße.“

Für die Angehörigen von Lars und Arne beginnt der Marathon neben dem Marathon. Den laufen sie nicht alleine: Die U-Bahnen sind voller Menschen, die Transparente und Fahnen mit sich führen. „Wo haben Sie denn das her?“, fragt ein Mann die Frau, die eben mit einem aufblasbaren Riesenhandschuh eingestiegen ist. – „Wenn du rechtzeitig am Start bist, kriegst du das.“ Die Frau kennt sich aus.

Steffi und Nicki bedauern derweil, dass ihre Männer den „Chip nicht freigeschaltet“ haben. Hätten sie sich für einen bestimmten Service beim Berlin-Marathon angemeldet, dann wären sie alle fünf Laufkilometer per SMS informiert worden, ob Lars und Arne noch im Rennen sind. Sie hätten sich so auch ungefähr ausrechnen können, wo die beiden gerade laufen. Jetzt sind sie auf Jörg angewiesen.

Der beruhigt sie wieder, als sie an der Ecke Eisenacher Straße/Grunewaldstraße stehen, kurz vor Kilometer 22: „Das dauert sicher noch.“

Nicki baut sich wieder mit ihrem Schild am Straßenrand auf. 15 Minuten vergehen. Lars ist nicht zu sehen. „Langsam wird es peinlich“, sagt sie, „die laufen alle 42 Kilometer, und wir schaffen es noch nicht mal, unsere Freunde zu sehen.“ Eisern hält sie ihre Pappe hoch. Steffi steht neben ihr und schüttelt den Kopf. Sie wirkt wenig zuversichtlich. Es würde sie nicht wundern, wenn ihr Arne es nicht bis ins Ziel schaffen würde: „Der hat sich so gut wie gar nicht vorbereitet.“ Nicki dagegen ist sich völlig sicher, dass Lars ankommen wird. Der habe gut trainiert und richtig gegessen. Teilweise nur noch Nudeln, „Vollkornnudeln natürlich“. Auch die regelmäßigen Pizza-Bier-Rückfälle hätten seiner guten Form keinerlei Abbruch getan.

Da kommt Lars! Er reißt die Arme hoch, lässt so etwas wie einen Jubelschrei los, nimmt seine Nicki in den Arm und drückt ihr einen dicken Schmatzer ins Gesicht. Lars berichtet noch, dass Arne und er sich bei Kilometer 15 getrennt hätten. Schon ist er wieder weg.

Steffis Handy klingelt. „Er hat aufgegeben“, berichtet sie. Keine 200 Meter mehr wären es bis zu seiner Steffi gewesen. Doch es ging nicht mehr. Arnes Beine waren zu schwer. Er setzt sich an den Straßenrand, zieht sich die Laufschuhe aus und wirkt alles andere als unglücklich. „Immerhin habe ich den Halbmarathon geschafft.“

Es geht weiter. Am Fehrbelliner Platz ist kaum ein freier Platz am Straßenrand zu finden. Immer noch sind die Reihen der Läufer relativ dicht geschlossen. Die Wikinger laufen vorbei, abgekämpfte Krieger. Auch der Mann in Polizeiuniform sieht nach 30 Kilometern nicht mehr wirklich frisch aus. Lars schon. Völlig euphorisiert rennt er kurz zu seiner Steffi, reißt die Arme hoch und rennt weiter.

Im Laufschritt geht es nun auch für Nicki weiter, zur U-Bahn. Es muss schnell gehen. Unter den Linden, auf dem letzten Kilometer, will Nicki Lars noch einmal sehen. Das ist so ausgemacht. „Dann soll ich ihm ein Bier in die Hand drücken.“ Tatsächlich, die Übergabe klappt. Und während viele Läufer mit schmerzverzerrten Gesichtern über den Asphalt kriechen, lacht Lars noch immer. Er prostet sich zu und nimmt ein erstes kleines Duschbad aus Bierschaum. Er fühlt sich als Sieger. Und Arne? Egal. Er hat es versucht.