Der Bioladen: Damit Oben oben bleibt und Unten unten: Das Karmakonto ist prall gefüllt
LIEBLING DER MASSEN
von Uli Hannemann
Bioläden wecken in mir merkwürdige Urängste. Die meisten davon sind bei Lichte besehen ziemlich albern. Die Dornröschenphobie, sofort nach Betreten des Ladens für hundert Jahre ins Koma zu fallen. Die Angst, in Anwesenheit von Nahrung zu verhungern. Die Angst, von einer eingeschworenen Kaste als nicht dazugehörig identifiziert und von ihr spontan getötet zu werden. Die Angst, mit einem einzigen Einkauf sämtliches Geld zu verlieren, ist von all diesen Ängsten vermutlich die berechtigtste.
Folglich gehe ich nur zum Bioladen, wenn ich im Supermarkt etwas vergessen habe. Heute ist es eine Zwiebel. Damit stelle ich mich hinter der Schlange zur Kasse an. Ich jongliere mit der Zwiebel, damit alle sehen, dass ich sonst nichts weiter habe. Mit einem Gegenstand kann ich sogar ganz passabel jonglieren. Sie fällt mir auch nur zweimal runter. Und ich habe sehr viel Zeit zum Üben.
Im Supermarkt hätte längst schon jemand von sich aus gesagt: „Ach, kommen Sie: Sie haben nur die eine Zwiebel? Dann gehen Sie ruhig vor.“ Hier nicht. Jede hat das Körbchen randvoll mit losen Artikeln, die an der Kasse einzeln abgewogen werden. Ich habe bloß die Zwiebel. Da ich es nicht eilig habe, bitte ich auch nicht darum, vorgelassen zu werden, sondern warte passiv auf das Angebot.
Das nicht kommt. Die Kundinnen sind mit dem Überlebenskampf ausgelastet – die Mangelernährung frisst ihre Kinder. Vegan muss man auch können, nicht nur wollen. Dafür ist das Karmakonto prall gefüllt. Denn immerhin sind sie ja gut zu Tieren und Pflanzen. Da muss man nicht auch noch nett zu Menschen sein. Schon gar nicht zu solchen aus der Welt der Müllschlucker.
Dabei mache ich mir nichts vor: Noch kaputter als sie mit ihrer grauen, unreinen Haut und ihrem Untergewicht sehe ich von innen aus: Alles ist völlig zerfressen, von meiner Seele gar nicht erst zu reden. Die dürfte an die Raucherlunge auf den Zigarettenschachteln erinnern: außen tiefschwarz und darunter dunkelrot und roh, wie ein Rinderbraten, den der Teufel versucht hat auf dem Gartengrill zu garen.
Sich gesund zu ernähren oder fair zu kleiden, kostet Geld. Das ist moderner Ablass: Wer Kohle hat, kann sich zum guten Essen noch die moralische Überlegenheit kaufen. Deshalb gibt es heute praktisch zwei FDPs, eine gelbe für die bösen Besserverdienenden und eine grüne für die guten Besserverdienenden. Damit Oben oben bleibt und Unten unten. Und zwar nachhaltig.
Doch enthält diese Erfahrung – das alles überlege ich mir in der Schlange vor der Kasse; ich habe sehr viel Zeit nicht nur zum Überlegen, sondern auch zum Schreiben dieses Textes; nebenher skizziere ich noch einen Meditationsratgeber sowie eine praxisorientierte Gebrauchsanweisung für die P8 von Heckler & Koch – wie so viele negative Erfahrungen auch ihre nützlichen Aspekte. Zum Beispiel als wirksame Methode, um Momente unerwünschter Lust zu unterdrücken. Denn Erektionen sind wie Busse: Wenn man einen braucht, kommt keiner, aber wenn man längst aufgegeben hat, kommen plötzlich drei auf einmal.
Wo ich mich früher mithilfe peinigender Erinnerungen abtörnte, stelle ich mir heute einfach das Regal mit den Dinkelkeksen vor. Oder wie ein unendlich blasser Mitarbeiter mir unendlich langsam unendlich blassen Käse abschneidet, ihn noch langsamer abwiegt und am langsamsten verpackt – das dient gleichzeitig auch als Einschlafhilfe. Oder wie ich mit nichts als einer Zwiebel ewig in der Kassenschlange stehe. Danach ist der Pimmel derart winzig, dass ich mich damit als Diktator bewerben könnte. Falls überhaupt noch eine Stelle frei ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen