Kreuzberg, mon amour

Dieses Viertel ist anders – denn es wählt sogar einen grünen Politiker per Direktmandat in den Bundestag. Christian Ströbele ist nicht zufällig so populär: Er verkörpert dieses moderne Jerusalem wie kein anderer. Eine Stadt in der Hauptstadt – die schönste Illusionsfolie des Landes

VON JAN FEDDERSEN

Klar, die Freude war groß. Und ist es noch. Dass Christian Ströbele, „unser Christian“, „der Christian“, „Ströbele“, den Wahlkreis 84 Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost gewonnen hat. Und wie! 43,3 Prozent. Doppelt so viel, wie seine Partei als Zweitstimmen einfuhr, auch schon ziemlich beachtliche 21,8 Prozent. Der Wahlabend im „Bierhimmel“ an der Oranienstraße war ein Event voller Selbstgenuss. Kein tränenersticktes Triumphgeraune wie vor drei Jahren, als einem das Gefühl beschlich, mit Ströbeles Wahl sei das Allerschlimmste eben noch verhindert worden. Damals hatte der Anwalt erstmals das Direktmandat gewonnen – und niemand nahm wunder, dass ebendies, das erste Volksmandat in der grünen Parteigeschichte, in Kreuzberg geschah. Denn es – Kreuzberg wie sein Ströbele – ist eine Geschichte voller Wunder, eine Chronik der Aufmüpfigkeit und Rebellion im Alltag; ein Schnippchenschlagen ganz im Sinne des Szenekarikaturisten Gerhard Seyfried, der eigens für Ströbele ein Wahlplakat schuf – darauf ein Kreuzberg zu sehen, das sich wie ein Dorf ausnimmt, dessen Einwohner verschieden sein mögen, ja sogar sollen, aber doch einig sind in dem, was ihr Viertel eben ist: eine Mixtur aus Lebens- und Überlebenslust.

Erinnert sich noch jemand? Achtundsechzig? Aufbruch, Revolution, Dutschke? Nix da mit Kreuzberg. Alles Charlottenburg, ein wenig noch Schöneberg. Aber Kreuzberg, Berlin 61 und Berlin 36, das von der Mauer eingehegte Reststück der Frontstadt, am Checkpoint Charlie beginnend, der Kreuzberg westlicherseits eine Art Berg Sinai der Szene, bis zum Schlesischen Tor? Kein Areal des Revolutionären. Später erst, in den Siebzigern, wurde es zu diesem. Zur punkigen Bekundung, einerseits kaputt zu machen, was uns kaputt macht, andererseits aufzubauen, was des Baus würdig ist. Und der Spielplatz konnte nur Kreuzberg sein, denn es war ein zerstörtes, vergessenes, verlorenes Viertel.

Heute ist der Checkpoint Charlie, in Steinwurfweite zur taz und bald zur Rudi-Dutschke-Straße, das Kreuzberger Tor zur Welt, zum Fluchtpunkt in die ungemütliche Welt von Berlin-Mitte. Die Siebziger, als alles begann, waren ja im Grunde ein Jahrzehnt, die Achtundsechziger lebenspraktisch beim Wort zu nehmen. Weg von den großen Worten, hin zu den kleinen Schritten. Kreuzberg – das war der Punkt auf der Landkarte, in den man ziehen muss. Denn die vielen kleinen Geschwister der Achtundsechziger, die konnten sich Charlottenburg nicht leisten.

Ein Viertel um den Savignyplatz, das bald so saturiert wirkte wie alles in Westberlin, subventionserstickt, satt und zufrieden, tief über den blauen Bänden Marxens und den braunen Lenins versunken. Es gab ein lesendes Leben im falschen: Da musste Kreuzberg ran. Ein Viertel, in dem es winters stärker als anderswo nebelte, weil die Kohleheizungen dominierten. Alte Leben lebten dort, Menschen mit geringen Renten. Ihre Wohnungen, vom Sommer abgesehen, klamm; die Wände feucht. Sanierung dringend geboten, die Spiegel-Reporterin Marie-Luise Scherer hat diesem Panoptikum in ihrer Geschichte „Der unheimliche Ort Berlin“ ein Denkmal gesetzt – und in eben dieser Zeit kamen die kleinen Geschwister, die in der Provinz die Signale hörten und die Jägerzäune in ihren Dörfern und Vorstädten nicht mehr sehen mochten.

Und die Türken, Gastarbeiter, die nirgendwo sonst so recht willkommen waren, aber wohnen mussten sie ja irgendwo, also in Kreuzberg. In der Sprache der Gutachter und Gesellschaftsbeobachter wird dies so formuliert: „In den Siebzigerjahren beflügelte der Unterdrücktenstatus den revolutionären Impetus einiger Studenten, Bundeswehrflüchtlinge und anderer Künstler eines antiautoritären Lebensstils in Berlin-Kreuzberg, die mit den Gastarbeitern Tür an Tür lebten.“ So Dorte Huneke und Roger Boyes für die Deutsch-Britische Stiftung 2004 in ihrer Expertise unter dem Titel „Lebt es sich besser als Türke in Berlin oder als Pakistaner in Bradford?“ Beide antworten: in Kreuzberg. Denn in Deutschland mussten sie um Anerkennung ringen – bis zur rot-grünen Ära ohne staatliche Gesten der Integration. In Kreuzberg konnten sie ihren Aufstieg organisieren – vor allem hier, im Verbund mit Outcasts, Alternativen und Ureinwohnern.

Dabei ist das Viertel arm geblieben, Kreuzberg findet sich in der Berliner Wohlstandsstatistik auf dem Schlussplatz. Selbst Neukölln oder der Wedding sind durchschnittlich besser. Aber was heißt Durchschnitt? Arm in Kreuzberg kann wenigstens als Lebensform ausgegeben werden, nicht allein als Status persönlichen Scheiterns. Und Christian Ströbele – schon sein Name zeigt an, dass er ebenso eingewandert ist wie einst die Özcans, al-Hiris und Srobovic’ – ist der heimliche Bürgermeister. Er ist der Konsens, und zwar der geliebte Konsens. Wer ihn schon mal gesehen hat, wie er auf seinem Fahrrad fuhr … Es gibt Leute, die schwören, es habe ausgesehen wie eine Fahrt auf einem Wasserspiegel: sacht und sicher.

Ströbele ist das bürgermeisterliche Dorfprinzip. Ein Mann, der keine Zumutungen abverlangt, aber doch fordert. Nämlich Engagement und Aufstieg. Ein Anwalt, der es zur Prominenz gebracht, dessen Stimme Gewicht hat. So einen kann man vorzeigen. Und eben wählen. Ströbele, das ist eine Art Vorsteher eines modernen Jerusalem, eines Manhattan deutscher Provenienz. Alles ist möglich, alle müssen sich vertragen, irgendwie. Und alles dürfen, wenn sie wollen, so bleiben, wie sie sind. Und müssen zugleich anders sein. Denn man muss ja miteinander auskommen.

Das ist ein Konzept ohne Plan, aber eines mit Würde. Niemand hätte sehen können, dass aus den 1.-Mai-Krawallen mal eine Touristenattraktion werden würde. Die Berichte in Fernsehen, Radio und Zeitungen mögen der Abschreckung gedient haben: Sie wirkten mobilisierend. Wie ein Lifestyle-Angebot. Was auch die Misere der Union in diesem Viertel belegt. Sie ist fast eine Splitter-, ja Protestpartei.

Aber eigentlich ist Kreuzberg ein konservativer Stadtteil, einer, der Konventionalität gerade im Mosaikhaften erzwingt. Wer identitär über die Runden kommen will, ist keiner Assimilation unterworfen: Man kann in den eigenen Wänden machen, was man will. Da gibt es Familien, deren Mitglieder astreines Hochdeutsch sprechen, Berlinisch gefärbt, klar, aber familiär das Türkische oder das Kroatische bevorzugen. Wie es auch Familien gibt, in deren Privatheit geschwäbelt wird, als sei sie nie von der Alb heruntergekommen. Delikat hört es sich an, wenn solche Kinder plötzlich, sind sie im Hort angekommen, im Dialog mit ihren türkischen Hortkameraden türkische Sprachbrocken einbauen – oder zu berlinern anfangen. Wie in der New Yorker East Side, wie einst in den Randbezirken des biblischen Jerusalem, wie im galizischen Lemberg vor dem Holocaust: ein babylonisches Wortegewirr ohne Probleme.

Das kann natürlich nicht als gallisches, asterixhaftes Dorf inmitten der römischen Ansprüche Cäsars wahrgenommen werden: Cäsar und andere römische Imperatoren verkörperten ja gerade das Multikulturelle, Galliens letztes Bollwerk das ethnisch homogene Dörfchen, das, blutsrein, sich der Moderne zu widersetzen sucht. Kreuzberg hingegen ist liberal bis in die Knochen, aber mit geringem Laisser-faire-Faktor. Liberal heißt, dass man das Neue Deutschland am Heinrichplatz im Zeitungsangebot eines Cafés findet, aber nicht die Nationalzeitung. Trotzdem scheint alles rougher als anderswo. In den Kindergärten ist es zu sehen: Familien, die auf rot-grüne Moral halten und ihre Gören nicht nach Schöneberg kutschieren, neben ihnen die türkischen Eltern, die am liebsten ihre Tochter vom Sportunterricht befreien lassen möchten. Oder die Mutter, die ihr Kind nicht auf Klassenfahrt schicken kann – und ersichtlich ihr Geld aus dem Fenster wirft, indem sie zwei Schachteln Zigaretten raucht. Das macht dann grummeln und meckern. Anstrengend, das. Aber gut so.

Bürgermeisterin Cornelia Reinauer übrigens, von der Linkspartei, ist lupenreine Schwäbin. Und spricht geschätzt vier Sprachen. Die ihrer Partei, also ein wenig ostisch. Schwäbisch. Hochdeutsch. Ein Hauch Berlinern ist ihr ebenfalls möglich – aber, mächtiges Plus, sie kann fast perfekt Türkisch: Ist das nicht irgendwie so klasse wie Rudi „9/11“ Giuliani, der New Yorker schlechthin war? Zero Tolerance – allen Reaktionären und Miesmachern.

Kreuzberg ist eben nur so konservativ, wie es sein möchte: im Beharrungsvermögen – und in der Art, wie es ein feines Gespür hat für Bürgerrechte und Politiker, die sie gering achten. Deshalb Ströbele. Der mit dem Fahrrad, der Mann mit den buschigen, wie horizontale Ausrufezeichen aussehenden Augenbrauen. Der Mann, der ein Ohr hat für die Nöte seiner Wähler, den irgendwie alle wollten, selbst die, die ihn nicht angekreuzt haben. Der Kreuzbergs Ruf als Viertel befestigt – weil es kein Reste- und Reserveviertel wie einst mehr ist. Das Viertel, das ein Grab staatlicher Subventionen wurde und doch mit dem Geld ein urbanes Paradies mit dörflichen Strukturen geschaffen hat. Dessen pädagogisches Personal mehr Mühe als anderswo in den Schulunterricht investiert, weil man die Erfolge besonders gut erkennt. Und weil man sich nicht nachsagen will, auf die falsche Karte zu setzen …

… Kreuzberg, unsere Liebe. Dort will man hin; wer am Checkpoint war, will zur Oranienstraße, in den Dschungel der Kleinläden, Kneipen und Restaurants. Nachts irgendwo hin, denn, ist doch egal, überall ist Licht, nach Einbruch der Dunkelheit wirkt Kreuzberg besonders attraktiv, dann ist es endgültig vorbei mit der Kehrwochenstrenge, aus der viele Neokreuzberger stammen, dann ist die Mediterranisierung des doitsche vita gut zu erkennen. Heizpilze auf den Bürgersteigen, damit man draußen sitzen kann. Kreuzberg ist ja nicht mehr nur arm; die Karstadtfiliale am Hermannplatz hat eine Lebensmittelabteilung, die sich neben der des KaDeWe nicht schämen muss. Kreuzberg hat Geld. Würde die CDU ihre Misere erkennen wollen, führe sie zur Weihnachtsfeier nach Kreuzberg. Nirgend sonst wird der schwäbisch-türkische Traum vom Aufstieg, auferstanden aus Ruinen, verbissener, froher gelebt. Ein Konservativismus, der von Liberalität ausgeht, weil es ohne sie nicht geht. Sonst wäre Krieg. Wer wollte den schon? Ströbele ist der populärste Lifestyle-Friedensengel der Republik. Recht so!