ZEIT.ORTE

Uli Hannemann, geb. 1965, lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Lesebühne „LSD – Liebe statt Drogen“, die jeden Dienstag um 21.30 Uhr im Schokoladen in der Ackerstraße auftritt. Seine jüngste Neuerscheinung ist die Geschichtensammlung „Wunschnachbar Traumfrau“ (Voland & Quist, 2017), in der auch viele zuvor in der taz erschienene Texte ihren Platz gefunden haben.

Last Exit Care Town

Uli Hannemann, geb. 1965, lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Lesebühne „LSD – Liebe statt Drogen“, die jeden Dienstag um 21.30 Uhr im Schokoladen in der Ackerstraße auftritt. Seine jüngste Neuerscheinung ist die Geschichtensammlung „Wunschnachbar Traumfrau“ (Voland & Quist, 2017), in der auch viele zuvor in der taz erschienene Texte ihren Platz gefunden haben.

Uli Hannemann

Bei Karstadt suche ich in der Haushaltsabteilung nach so komischen Körbchen. Der Grund dafür ist derart langweilig, dass ich ihn uns lieber schenke. Alles andere würde mich auch in ein dornröschenmäßiges Koma stürzen, dem obendrein der Rest des Texts zum Opfer fiele – ein Verlust, der angesichts der Banalität des Themas, des fehlenden Spannungsbogens und des umständlichen und mit zahllosen Adjektiven und redundanten Nebensätzen (die in erster Linie dazu dienen, die jeweilige Kernaussage am immer ferner rückenden Horizont des Hauptsatzes verschwimmen zu lassen und somit deren Dürftigkeit zu verschleiern) sowie nur wenig variierender Junktionen überfrachteten Stils, für die Menschheit allerdings mit Leichtigkeit zu kompensieren wäre. Ich denke mal, nun habe ich die Neugier der Leserschaft genug gesteigert.

So komische Körbchen finde ich nicht. Die Abteilung ist groß und weist die Systematik einer Messi-Wohnung auf. Daher gilt es, einen Mitarbeiter zu finden. Doch den Angestellten ist es Sport und Berufskodex zugleich, sich mit allen Mitteln ihrer Entdeckung zu entziehen. Das ist für beide Seiten stets ein großer Spaß. Die Karstadt-Leute bedienen sich dabei im Wesentlichen zweier divergenter Hauptmethoden: Flüchten oder Verharren.

Flüchten erklärt sich von selbst. Sobald sie in der Ferne einen Kunden erblicken, huschen sie, in Tempo und Gangart an Erdmännchen beim Sichten eines Fressfeindes gemahnend und zusätzlich von hohen Warenstapeln oder -karren geschützt, in ihren jeweiligen Bau aus Warenlagern und Hinterzimmern. Sind sie aus Unachtsamkeit zu spät dran, so verbergen sie sich wenigstens noch schnell unter den Stellagen. Dort verringern sie die Herzfrequenz auf etwa zwei Schläge pro Minute und stellen sich auf diese Weise tot. Einige versuchen zur Tarnung die Färbung der Umgebung anzunehmen. Vor einem Regal mit grellbunten Geschenkartikeln bedeutet das eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für ihre Hautpigmente.

Dennoch ist die Methode des Verharrens ungleich komplexer, da sie nicht unerhebliches psychologisches sowie mimisches Geschick verlangt. Dazu noch Nerven wie Drahtseile. Die besagten Verkäufer stehen einfach da: starr, stumm, desinteressiert, abweisend, böse. Entweder haben sie sich aufgrund einer besonderen Begabung für das Verharren entschieden, oder sie machen wegen einer Gehbehinderung, die das rasche Türmen verhindert, aus der Not eine Tugend.

Der Schlüssel dieser Taktik liegt in der maximalen Abschreckung. Ohne die allergeringste Regung erkennen zu lassen, auch dann nicht, wenn ein Kunde direkt auf sie zugeht, stehen sie da wie die schwarzen Wächter am Tor zur ewigen Finsternis. Sie verbreiten eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht. Das wissen sie, und das wollen sie. „Wir haben nichts mit diesem Haus zu schaffen“, ist die Botschaft, die sie aussenden, „gehen Sie weiter. Sonst geschieht hier gleich ein entsetzliches Unglück.“ Man will sie keinesfalls stören. Es kostet Mut und Überwindung, sie anzusprechen.

„Entschuldigen Sie bitte. Haben sie irgendwo so komische Körbchen?“, wende ich mich trotzdem an eine dunkle Statue mit Namensschild – alle anderen Mitarbeiter sind anscheinend heute auf dem Fluchttrip. Der Angesprochene verzieht keine Miene. Das letzte Mal gelächelt hat er vor sieben Jahren, als ein Spatz an seine Balkontür knallte und sich das Genick brach.

„Ja, das haben wir“, sagt er, denn wenn dieser Interaktionslevel erreicht ist, tun sie überraschenderweise einfach ihre Arbeit. Er wird nur so selten erreicht, weil sich keiner traut, zu fragen. Natürlich behält er sein Pokerface bei. Ein eigenes Emoji für Karstadt-Verkäufer zeigte vermutlich ein leeres Gesicht ohne Mund und Augen. Doch immerhin führt er mich nun um mehrere Ecken herum durch das Labyrinth der Haushaltswarenabteilung. Schließlich zeigt er auf ein kleines Regal mit so komischen Körbchen. „Hier sind so komische Körbchen“, erläutert er das Evidente, „verschiedene Farben, verschiedene Größen.“

Ich bedanke mich. Er begibt sich zurück auf Start, und ich sehe mir die Auswahl an: Es gibt so komische Körbchen aus Weide und so komische Körbchen aus Plastik. In verschiedenen Farben und verschiedenen Größen – da hat der Kollege nicht zu viel versprochen. Aber die Körbchen sind scheiße. Sie sind hässlich und unpraktisch. Sie taugen nichts. Unverrichteter Dinge schicke ich mich an, zu gehen.

Doch schon als ich um die erste Ecke biege, zucke ich zurück. Um ein Haar hätte ich ihn übersehen: Dahinten steht er noch, reglos wie so ein silbern angemalter Pantomime in der Fußgängerzone, an seinem angestammten Platz im Bannkreis der nächstgelegenen Rolltreppe. Ich will aber nicht, dass er merkt, dass er den ganzen Aufwand umsonst hatte. Die vielen Worte. Die vielen Schritte. Er hat für mich sein Innerstes nach außen gekehrt, und ich spucke bloß darauf. Erst recht möchte ich nicht mit seiner Enttäuschung, seiner Verachtung, seiner Wut oder auch nur einer Nachfrage konfrontiert werden. Also ziehe ich mich wie ein Dieb aus seinem Blickfeld zurück und schleiche mich in Gegenrichtung davon, zu einer weit entfernten, anderen Rolltreppe. Ich nehme einen gewaltigen Umweg in Kauf, nur damit er nicht sieht, dass ich die Körbchen verschmähe. Das ist schon Wahnsinn.

Nun dürfte sich mancher dieser notorischen Einfaltspinsel, für die das Glas stets viertelvoll ist, ausmalen, dass ich das ganze Theater nur aus reiner Empathie für den Verkäufer veranstalte. Das ist Quark. Der wäre nach einem kompletten Zusammenbruch der Zivilgesellschaft doch der erste, den ich, ohne mit der Wimper zu zucken, bei lebendigem Leib zerfleischen würde, nur um einen Konkurrenten um die schwindenden Ressourcen auszuschalten. Nein, ich bin nicht nett. Ich bin schlicht neurotisch. Und zwar hochgradig. Den einzigen mildernden Umstand, den ich zu meinen Gunsten vorbringen kann, ist, dass ich zurzeit nicht wirklich gefährlich bin, sondern mir in der Regel bloß selbst schade.

Diese falsche Rücksicht, die doch eigentlich nur pathologische Konfliktscheu ist, durchzieht mein gesamtes Leben und darin den gesamten Alltag. Ein weiteres Beispiel: Wenn ich, wie so oft, noch am Mittag im Nachtgewand herumschlurfe, werfe ich mir, sobald die Paketpost klingelt, rasch einen Bademantel über und öffne mit den Worten, „tut mir leid, ich bin krank“, die Wohnungstür.

Das ist so peinlich. Denn erstens, wer will das wissen? Zweitens: Wen geht das was an? Drittens: Das ist hier ein freies Land. Und viertens: Warum mache ich das dann?

Vielleicht, habe ich mir überlegt, aus unterschwelliger Scham gegenüber der ehrlich arbeitenden Bevölkerung. Womöglich aber auch aus dem Gedanken heraus, dass sein Frust garantiert noch weiter steigen wird, wenn er sieht, dass der Teufel seine schwarzen Schäfchen offenbar auch ohne das unterbezahlte Überpensum eines DHL-Boten zu ernähren weiß. Und der in der logischen Folge seine Arbeit noch schlampiger als bisher erledigt, obwohl das nach menschlichem Ermessen kaum noch möglich ist.