LeserInnenbriefe
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Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.

Macron, le néolibéral

WAHLEN IN FRANKREICH Viele brachten es nicht über sich, Macron zu wählen, um Le Pen zu verhindern. Es gibt nachvollziehbare Argumente dafür

Pariser Studierende meinen: „Weder Banker noch Rassistin!“ Foto: ap

Die Chance

betr.: „Macron Président!“, taz vom 6. 5. 17

Macron, die Chance, ohne Abstrich Ja, denn halblinks wie halbrechts haben in Frankreich abgewirtschaftet, wie auch die Große Koalition in der Bundesrepublik, die die Zukunftschancen nicht ergriffen hat. Im Gegenteil hat die Reform des EEG 2016 die Zukunftsindustrie erneuerbare Energien abgewürgt. Doch die Fahne der EU kann nicht der Glaube an eine (noch) bessere Zukunft sein, wie Peter Unfried meint. Die Realität spricht dagegen. Wir leben auf einem übernutzten Planeten und werden als Gesellschaft vom Klimawandel und einer unsäglichen Ungleichheit bedroht. Wenn das Durchschnittseinkommen, wie ungerecht es auch immer verteilt ist, in Deutschland 440.000 Euro beträgt und zu dem einen reichsten Prozent der Menschheit gehört, der als Einzelner im Jahr 2016 34.000 Dollar versteuert hat (Branko Milanovic), dann ist der Glaube an eine bessere Zukunft nicht auf Sand, sondern auf Luft gebaut. Unter der Fahne der EU haben wir jedoch die Chance , den Abstieg so zu gestalten, dass für die heranwachsende Generation ein lebenswertes Leben möglich wird. KLAUS WARZECHA, Wiesbaden

Spießer

betr.: „Läuft!“, taz vom 9. 5. 17

das auskreuzen politischer gegner auf der heutigen titelseite hat mich an die fahndungsplakate von raf-mitgliedern erinnert, die damals öffentlich aushingen. sobald ein mitglied gefasst war, fanden sich genügend spießer, die die betreffende person auf dem plakat mit ihren kugelschreibern „eliminierten“. ANNA DÖPFNER, Berlin

Sie klatschen

betr.: „Ganz nach oben gepokert“, taz vom 8. 5. 17

Marine Le Pen abgewählt und der neoliberale, eurofreundliche Emmanuel Macron zum neuen Präsidenten gekürt, ist die Gefahr von rechts erst mal abgewendet, und es ist auch gut so. Darüber hinaus haben unsere Bundespolitiker viele Gründe, sich zu freuen: Denn mit Emmanuel Macron zieht in den Élyséepalast ein Präsident ein, der mit der Unterstützung der Bundesregierung rechnen kann. Ein Szenario wie nach der Wahl von François Hollande, als es seitens der Bundesregierung plötzlich hieß, Frankreich gehöre zu Südeuropa, und mit der Beendigung der langjährigen deutsch-französischen Zusammenarbeit gedroht wurde, bevor der demokratisch gewählte Präsident sein soziales Vorhaben gefälligst fallen ließ, wird sich nicht wiederholen.

Wenn Macron seine Pläne wahr werden lässt, wird er erst mal per Dekret regieren, um das Arbeitsrecht weitgehend zu reformieren, die Staatsausgaben drastisch zu kürzen, und die Vermögensteuer abzuschaffen, um nur drei seiner geplanten Maßnahmen zu nennen. Was die Hollande-Regierung entgegen ihrer Versprechen nach Massenprotesten in abgespeckter Version am Parlament vorbei durchgesetzt hat, soll nun in vollem Umfang umgesetzt werden. Egal ob die Einführung eines flächendeckenden Niedriglohnsektors sowie die drastische Senkung staatlicher Ausgaben in einem nettoimportierenden Land, wo die Wirtschaft auf die Binnennachfrage angewiesen ist, diese verringern und damit die Wirtschaftsprobleme möglicherweise verschlimmern wird; egal ob die existierenden sozialen Probleme verschärft werden; egal auch, ob der neue Präsident sein Programm dank der Stimmen derer umsetzen kann, die lediglich die rechtsradikale Gefahr des Front National abwenden wollten. Denn diejenigen, die in Deutschland die unerlässliche Modernisierung des Marktes in einem Land beschwören, wo sich die Bürger vermeintlich vor jeder Arbeitsmöglichkeit drücken und lieber streiken oder von staatlichen (oder europäischen) Geldern leben, werden klatschen.

GIANBATTISTA MARIOLOGO, Köln

Protestwahl

betr.: „Macron Président!“, taz vom 6. 5. 17

Sehr geehrter Herr Unfried, wer hat uns denn Ihrer Meinung nach den Zuspruch für die autoritären Nationalist_innen gebracht – den breiten Zuspruch, der ja nicht inhaltlich überzeugt ist, sondern aus Protest erfolgt –, wenn nicht die neoliberale Steigerung sozioökonomischer Ungleichheit und der neoliberale Abbau von sozialer Sicherung? Wieso projizieren Menschen denn Ängste auf Fremdes?

Wenn wir gerade in der „beste[n] Zeit ever in einem Europa des Friedens und der Freiheit durch liberale Demokratie“ leben, wieso nimmt dann nicht nur sozioökonomische Ungleichheit zu, sondern auch die sozioökonomische Ungleichheit der Wahlbeteiligung (also die Tatsache, dass obere Schichten unverändert hohe Wahlbeteiligung zeigen, aber untere Schichten seit 1980 kontinuierlich seltener zur Wahl gehen)? Falls Sie glauben, dass Erwerbslose und Niedriglöhner_innen aus wachsender Zufriedenheit fernbleiben, dann lesen Sie mal ein bisschen was von dem Politologen Armin Schäfer. Für den aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat er nachgewiesen, in welch hohem Ausmaß reiche Personengruppen höheren Einfluss auf politische Meinungsbildung haben.

ULRIKE MÜLLER, Berlin

Austeritätsclique

betr.: „Macht der Gewohnheit“, taz vom 6./7. 5. 17

jörg wimalasenas plädoyer für eine lautstärkere reaktion auf die erneuten kürzungserpressungen der von deutschland angeführten austeritätsclique in griechenland kann ich nur unterstützen. leider hat sich auch die taz in der letzten zeit nur unter „ferner liefen“ dazu geäußert. stattdessen lese ich erstaunt kommentare von peter unfried (6. 5.) und robert misik (29. 4.), die macron in frankreich offenbar für mehr halten als das kleinere übel. dass man ihn als verantwortungsvoller franzose dennoch wählen musste – geschenkt. aber dass macrons funktion darüber hinausgeht, eine weitere handpuppe des großkapitals zu sein, die den skandalösen ausverkauf ganzer nationen zu verantworten hat, kann er ja dann mal zu beweisen versuchen. ich wette jedenfalls dagegen, dass von einem präsidenten macron griechenland irgendeine verbesserung seiner lage erwarten kann. wer deals mit nestlé einfädelt, dürfte nur schwer gegen die privatisierung der wasserwerke in thessaloniki in stellung zu bringen sein. MARCUS NEUERT, Minden

Verdruss

betr.: „Macron Président!“, taz vom 6. 5. 17

Ja, natürlich ist Macron das kleinere Übel, auch wenn Peter Unfried das nicht so sieht. Wäre er die erste Wahl, dann hätte er bei der 1. Runde nicht nur 23 Prozent der Stimmen erhalten. Lassen wir einmal die Nichtwähler außer Acht, dann wollten ihn 77 Prozent der Franzosen nicht. Die beiden in die Stichwahl gelangten Kandidaten können nicht einmal die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Das ist weder ein Sieg der Demokratie noch des europäischen Gedankens, sondern einfach ein Zeichen des Verdrusses. Ich wundere mich, dass überhaupt eine solche Wahlbeteiligung zustande gekommen ist, auch wenn 4,3 Millionen ungültiger Stimmen ein klares Zeichen sind.

Wenn morgen Beatrix von Storch und Volker Kauder zu einer ähnlichen Wahl anträten, so würde ich seit meinem 18. Lebensjahr das erste Mal eine Stimmabgabe verweigern. ANDREAS MAKOWSKY, Strassen