Bürger im Wahn

THEATER Im Bremerhavener „Volksfeind“ stehen sich die Leute in Gummistiefeln gegenüber. Sorgfältig choreografiert Tobias Rott die Konfliktlinien

Wenn vom Volk die Rede ist, ist Herrschaft stets mitgedacht

VON ANDREAS SCHNELL

Karg, klar gegliedert ist die Bühne in Tobias Rotts Inszenierung von Ibsens „Ein Volksfeind“: vorn die gute Stube der Familie Stockmann, im Hintergrund das Draußen, wo die Bürger im Einheitstempo vorbeiziehen, besser: gezogen werden, ein gemeinsames Lied auf den Lippen. „Froh zu sein bedarf es wenig“ oder – später – „Die Gedanken sind frei“. Der Übergang, eine gigantische Tür, ist gesäumt mit Gummistiefeln.

Die gute Stube ist allerdings wenig heimelig. Ein Sofa bildet den einzigen Ruhepunkt, der deswegen mehr als einmal Austragungsort eines Verdrängungswettbewerbs ist. Was ja ganz gut passt, konkurrieren in diesem immer wieder gern genommenen Klassiker doch mindestens zwei grundlegende Positionen. Die eine ist die von Thomas Stockmann. Der hat im Grundwasser gefährliche Bakterien gefunden. Und das in einem Heilbad! Da muss natürlich gehandelt werden.

Was allerdings sein Bruder, der Stadtvogt Peter Stockmann, nicht gutheißen kann. Kostet alles viel zu viel Geld. Und auch wenn sich zunächst eine „kompakte Majorität“ hinter Thomas Stockmann zu versammeln scheint, sieht die Sache schon bald ganz anders aus. Die Opposition der Journaille und der Honoratioren erweist sich als höchst taktisch. Und so wird aus dem Volksfreund Thomas Stockmann schließlich der Volksfeind. Allerdings: Er bleibt sich doch bemerkenswert treu. Spätestens bei der von ihm einberufenen Versammlung, bei der die Bürger im Verfahrenswahn erst eine Versammlungsordnung mit Rednerliste etablieren, werden die problematischen Tendenzen des Dr. Stockmann offensichtlich. Geradezu faschistisch hetzt er gegen gesellschaftliche „Schädlinge“, sieht nicht nur das Trinkwasser, sondern gleich die ganze Gesellschaft verseucht. Aber das ist nur die wütende Steigerung von etwas, das schon vorher da war: Als er vorgibt, gar nicht auf Ruhm oder Macht scharf zu sein, im Nebensatz aber kaum merklich relativiert: „Ach, obwohl ...“ , da lässt sich erahnen, was das für ein Mensch ist. Wenn vom Volk die Rede ist, ist Herrschaft stets mitgedacht. So eine Geschichte verführt geradezu zu aktualisierenden Sichtweisen: Umwelt versus Profit, Geschäft gegen Gesundheit – das sind Konfliktlinien, die dem Kapitalismus immanent sind.

Rott verzichtet darauf weitgehend, entschlackt das Stück, setzt Slapstick-Kontrapunkte. Ein bisschen spröde bleibt der ganze Abend aber doch. Was wohl nicht zuletzt mit gerade dieser Humorebene zu tun hat: Die sorgfältige Choreografie, die Pausen, die gewiss sinnfällige Beziehungslosigkeit der Figuren untereinander, die eben allzeit Funktionsträger sind und nirgends Privatmenschen, lassen die beiden Ebenen einander fremd bleiben.

Zwar beweist das Ensemble wieder einmal seine Qualitäten, wobei vor allem Martin Bringmann in der Hauptrolle den Raum, den ihm das Regiekonzept lässt, hervorragend zu nutzen weiß. Und auch Andreas Möckel als sein Bruder und Gegenspieler sowie Sascha Maria Icks als Thomas Stockmanns Frau bestehen souverän in der distanzierten Familienaufstellung. Ansonsten gelingt die Balance zwischen Slapstick und durchaus reizvoll rhythmisiertem Erzählfluss nicht immer.

Sehr schön aber der Schluss: Wo bei Ibsen die Familie des Thomas Stockmann, die ja einiges hat mitmachen müssen, zum Familienpatriarchen steht, geht Frau Stockmann mit einem lapidaren „Ach, Thomas ...“ hinaus.

■ heute, 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven