Die Brigade Kurth wühlt schon wieder

KLEINER ABSCHIED Hemdsärmelig und stur, so kennt man ihn. Der Schauspieler Peter Kurth gehört in Fernsehkrimis oft zu den Verdächtigen. Heute hat er als Bahnwärter Thiel Premiere am Gorki-Theater, das er bald verlassen wird. Im Team von Armin Petras gehört er zu den heftigsten Gräbern im Bergwerk der Geschichte

Aber wer was wie und warum erzählt, das eben sind die Fragen, um die es in diesem Theater als Forschungsanstalt geht

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Er ist einer der Gründe, um in das Gorki-Theater zu gehen: der Schauspieler Peter Kurth. Seit er mit Armin Petras 2006 vom Thalia Theater in Hamburg an das Haus in Berlin kam, hat er das Projekt dieses Regisseurs und Intendanten entscheidend mitgetragen: in der Geschichte zu graben, Literatur zu befragen, was dieses Land Deutschland geprägt hat, wie die Gegenwart entstanden ist, was die Spuren eines unterschiedlichen Denkens aus Ost- und Westdeutschland damit noch immer zu tun haben, wie die Verlierer der Geschichte leben und was die Sieger uns glauben machen wollen.

Fast mit jeder Rolle seit 2006 hat Peter Kurth einen Mosaikstein in dieses Gewebe gefügt. Den Zuschauer „auf diese Reise mitzunehmen“, das ist seine Leidenschaft. Deshalb ist das Gorki-Theater für ihn einer „der spannendsten Orte“, an denen man als Schauspieler arbeiten kann. Und weil er die Sinnstiftung dieser Arbeit nicht missen mag, wird er mit Armin Petras in der nächsten Spielzeit auch in Stuttgart zusammenarbeiten.

Aber noch ist es nicht so weit, jetzt spielt er den Bahnwärter Thiel in einer Performance nach der gleichnamigen Erzählung von Gerhart Hauptmann. Die Rolle des massigen Mannes, der keine Sprache für seine Gefühle findet, bis sich die inneren Turbulenzen in einem Gewaltakt Bahn brechen, scheint gut aufgehoben bei diesem Schauspieler. Bei einer Probe darf ich zuschauen, Peter Kurth und Regine Zimmermann arbeiten mit Hauptmanns Prosatext; Schattenfiguren und Tänzer nehmen sich der irrationalen Fantasien des Bahnwärters an, seiner Begegnung mit seiner toten Frau.

Er wird alles, was der Bahnwärter sieht

Drei, vier Seiten Prosa, die vom Erschrecken des Bahnwärters über die Entdeckung handeln, dass seine zweite Frau seinen Sohn aus erster Ehe misshandelt, lässt der Regisseur Armin Petras Kurth in dieser Probe zweimal erzählen – ganz unterschiedlich und doch beide Male spannend. Das erste Mal, in einer ruhig gesprochenen Fassung, liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf der Sprache des Dichters, der starken Spannung zwischen der inneren Beunruhigung des Bahnwärters und der Ruhe der äußeren Bilder. Die zweite Fassung ist dramatischer und illustrativer, Kurth verwandelt sich kurz in alles, was Thiel sieht, in den feuchten Waldboden und die auffliegende Krähe, er wird durchlässig für jede Wahrnehmung. Ich könnte nicht sagen, was überzeugender ist; aber dass beide Erzählweisen den Inhalt so stützen, spricht für das hohe handwerkliche Können des Schauspielers.

Einmal, es war während der Eröffnung von Petras erster Spielzeit am Gorki, kam Kurth, der gerade Ibsens Baumeister Solness, einen an seiner Selbstherrlichkeit scheiternden Mann, gespielt hatte, mit seinen Schauspielerkollegen in die Kantine und bestellte Schnaps für alle, als wären sie noch immer eine Brigade vom Bau. Wenn Peter Kurth einen Raum betritt, dann denkt man oft, dass er in einem Leben vor dem Schauspielerdasein sicher schon mal Bauunternehmer war, oder ein Fahrgeschäft hatte. Das Hemdsärmelige und Bodenständige, die langen, zurückgekämmten Haare, der Bauch, der sich nicht selten durch die Hosenträger schiebt, die Sturheit, mit der er aus den Kulissen stürmt, als hätte er schon am Alexanderplatz Anlauf genommen: All das sind die Insignien eines proletarischen Stolzes, den er durch viele Rollen schimmern lässt und sie mit einer reichen Erfahrung eines Lebens jenseits von Kunst und Theater auflädt.

Das wirkt oft wie ein anachronistischer Rest aus dem Arbeiter- und Bauernstaat, in dem er groß geworden ist. Aber tatsächlich ist diese Aura immer ein Ergebnis seiner Darstellungskraft. 1957 in Güstrow geboren, ging er dort mit 21 Jahren, nach seiner Zeit in der Nationalen Volksarmee, an die Staatliche Schauspielschule. Seit den achtziger Jahren spielt er Theater, in Chemnitz, Magdeburg, Leipzig – schon damals lernte er Petras kennen.

Es macht Spaß, mit ihm über Literatur zu reden. Nein, der „Bahnwärter Thiel“, dieser 100 Jahre alte Amokläufer, war für ihn keine bedrückende Schullektüre (wie für mich); er hat dieses „Kleinod zwischen Naturalismus und Expressionismus“ im Studium schätzen gelernt und war jetzt interessiert daran, zu sehen, ob die damalige Begeisterung seinem heutigen Blick noch standhält. Und ja, „alter Schwede, die Dramatik ist enorm“, sagt er. Gerade der Aspekt der Sprachlosigkeit des Bahnwärters habe an Bedeutung gewonnen heute, wo ein „Wust an Kommunikationstechnologien uns zugleich mit einer neuen Kommunikationslosigkeit konfrontiert“.

Zu den vielen Romanstoffen, die er in den letzten Jahren mitgetragen hat, gehört auch Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“. Dieser schräge Blick auf den Nationalsozialismus, erzählt aus der Perspektive eines Kriminellen, der in der SS Karriere macht, habe ihn, als alten Ostler, schon allein deshalb interessiert, weil ein solcher Blick überhaupt nicht möglich schien in dem System, in dem er aufgewachsen ist. Aber wer was wie und warum erzählt, das eben sind die Fragen, um die es in diesem Theater als Forschungsanstalt geht.

Ein, zwei Mal im Jahr ist Peter Kurth auch in einer „Tatort“-Folge zu sehen, fast immer unter den Verdächtigen, was ein bisschen schade ist, zu vorhersehbar. Und er hat in den letzten Jahren oft mit jungen Filmregisseuren für das Kino gearbeitet, mit Sven Taddicken („Zwölf Meter ohne Kopf“) und Florian Eichinger („Bergfest“), aber auch mit Thomas Arslan („Im Schatten“) und Andreas Dresen („Whisky mit Wodka“). Mit der Schauspielerin Susanne Böwe – seine Partnerin auch im realen Leben – spielt er in einem Petras-Stück über die schrumpfenden Städte, „Heaven (zu tristan)“, ein altes Ehepaar, das sich das Leben nehmen will, als nichts mehr weitergeht. Und sich dann in den Details völlig verheddert, eine verzweifelte Szene, anrührend und komisch, zärtlich und ungeduldig, und in kleinen Gesten zusammendrängend, was eine lange gemeinsame Geschichte war. Das ist, in seinem Rückblick auf die Zeit am Gorki, noch immer ein Lieblingsmoment des Schauspielers Peter Kurth.

■ Maxim Gorki Theater, „Bahnwärter Thiel“, Premiere am 17. November.