Plötzlich sind lauter Migranten da

GRÜNEN-KANDIDAT MUTLU

Der Mutlu habe mächtig Unterstützer rangekarrt, hört man

Parteifahne, Landesvorsitzender, man duzt sich – alles wie üblich bei wichtigeren Grünen-Veranstaltungen. Aber etwas ist anders am Dienstagabend im Rathaus Tiergarten, wo der Kreisverband Mitte seinen Bundestagskandidaten kürt. Das Wahlverfahren? Kompliziert wie immer. Die Länge? Viereinhalb Stunden, auch nichts Neues. Das Publikum? Genau. Ohne es statistisch belegen zu können: Es sind merklich mehr Männer und Frauen mit Migrationshintergrund da, vorwiegend türkischstämmige.

Der Mutlu habe mächtig Unterstützer rangekarrt, hört man von manchen, die lieber einen anderen der fünf Bewerber in den Kampf um den Reichstag schicken würden. Die hätten das aber auch machen können mit dem Rankarren: Es sind zwar 130 Leute im Saal, deutlich mehr als sonst bei Parteitreffen in Mitte – aber insgesamt haben die Grünen hier über 700 Mitglieder.

Mutlu selbst bestreitet gar nicht, kräftig mobilisiert zu haben. Warum auch? Die Grünen wollen Mitte gewinnen, es wäre ihr zweites Direktmandat neben Friedrichshain-Kreuzberg. Doch dafür müssen sie aufholen. Zwar waren sie 2009 stärkste Partei nach Zweitstimmen – aber bei der Erststimme lag ihr Kandidat, Exjustizsenator Wolfgang Wieland, um 4,5 Prozentpunkte hinter SPD-Frau Eva Högl.

Um diese Lücke zu schließen, müssen die Grünen noch nicht mal hartgesottene SPD-Wähler umstimmen: Die Wahlbeteiligung war 2009 mit 67 Prozent ziemlich gering, nur in drei der zwölf Berliner Wahlkreise war sie noch schlechter. Ein Riesenpotenzial sieht Mutlu bei Stimmberechtigten mit Migrationshintergrund, die vor allem in Wedding und Tiergarten wohnen. Bei ihnen komme er ebenso an wie als Bildungspolitiker bei den Akademikereltern in Alt-Mitte, hat er immer wieder behauptet.

Beim Nominierungsabend im Rathaus beweist Mutlu, dass er den ersten Teil des Versprechens erfüllen kann. Schafft er es auch beim zweiten, wird es spannend im Wahlkreis 76. Und geradezu ironisch wäre es, wenn Mutlu am Ende seinem alten Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg – aus dem er sich als zu wenig links weggemobbt fühlte – den Alleinstellungsstatus des bundesweit einzigen Direktmandats nähme.

STEFAN ALBERTI