Walter landet
mit dem Raumschiff

Jugendtheater Das Festival „Augenblick mal!“ überzeugte mit vielen Stücken, die nah an komplizierten gesellschaftlichen Realitäten gebaut sind und zugleich poetisch erzählen

Aus dem Theater COMEDIA in Köln kam „Tigermilch“ Foto: Festival Augenblick mal!

von Katja Kollmann

Mit Kreide Blumen auf den Boden malen. Und dann zusehen, wie sie verschwinden – mit dem Wissen, dass jemand seinen Garten nie wiedersehen wird. Oder Jameelah beobachten, wie sie im Kühlschrank kauert, sich Tigermilch mixt und dabei die Zähigkeit eines Teenagersommers fühlen. „Augenblick mal!“, ein großes Theaterfestival für junges Publikum, beglückt, indem es kleine unvergessliche Momente schafft und sich gleichzeitig den großen Fragen aussetzt. Zehn Inszenierungen hat die fünfköpfige Jury nach einer zweijährigen Sichtung von mehr als vierhundert Theaterarbeiten nach Berlin eingeladen und zeigte sie in den letzten fünf Apriltagen.

„Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor“ arbeitet mit einfachen, klaren Mitteln und ist gedacht für Kinder ab acht. Kathrin Blücher vom Theater Waidspeicher in Erfurt übernimmt alle Rollen des Theaterstücks, das auf dem gleichnamigen niederländischen Kinderbuch von Joke van Leeuwen basiert. Oft hat sie eine Puppe mit großen, etwas angstvollen Augen in der Hand und leiht so der kleinen Toda die Stimme.

Bis das Bild verschwunden ist

Zuerst malt Blücher alles, was wichtig ist in Todas Leben, mit Kreide auf den Boden. Dann wird Todas Vater in den Augen seiner Tochter zum Busch. Er wird zum Bürgerkriegssoldaten, der sich tarnen muss, um zu überleben. Und er ist nicht mehr bei Toda. So nimmt die Schauspielerin den Wischmopp voller Wasser und wischt den aufgemalten Vater einfach weg.

Irgendwann ist das ganze Bild verschwunden, denn Toda muss alles, was sie kennt – sogar ihren richtigen Namen, der auf Toda endet – zurücklassen, um ihr Leben zu retten. Diese manchmal märchenhafte Figur eines Menschen auf der Flucht kommt einem sehr nah, weil die Puppenspielerin ihrem Objekt viel Leben einhaucht. Gleichzeitig reflektiert sie als Darstellerin der schon erwachsenen Toda die Ereignisse.

In „Tigermilch“, empfohlen für ein Publikum ab fünfzehn, schwingen sich Nadja Duesterberg und Sibel Polat vom COMEDIA Theater Köln von einem Kühlschrank zum anderen. Zwanzig Kühlschränke auf der Bühne sind ihre Spielwiese. Ihre Protagonistinnen Nini und Jameelah brauchen einen, um die Zutaten für die stark alkoholhaltige „Tigermilch“ zu lagern. Für Jameelah ist es der letzte Sommer, bevor sie abgeschoben wird in den Irak.

Duesterberg und Polat legen eine unglaubliche Spielgeschwindigkeit vor, unterstützt von Ögünc Kardelen am Schlagzeug. Atemlos und orientierungslos lassen sie Nini und Jameelah durch den Sommer rasen, bis diese Zeuginnen eines Ehrenmordes in ihrer Nachbarschaft werden. Beide Schauspielerinnen drosseln das hohe Spieltempo danach nicht, denn nun sind die Figuren innerlich unruhig und müssen sich positionieren, für oder gegen eine Aussage gegen den ihnen bekannten Täter. Es ist ein stufenweiser Bewusstwerdungsprozess, der Nini und Jameelah ihre unterschiedlichen kulturellen Kontexte schmerzhaft vor Augen führt.

Das Festival „Augenblick mal!“ zeigt: Theater, das für ein junges Publikum gemacht ist, ist Theater für alle

Beide Inszenierungen spiegeln direkt und doch poetisch aktuelle gesellschaftliche Realitäten und erfüllen so die Kriterien der Festivaljury. So sollen die Inszenierungen die Ambivalenzen des Lebens darstellen, den jungen Zuschauern Respekt entgegenbringen, sie zum eigenständigen Handeln ermächtigen und außerdem ästhetisch überzeugen. Es ist die 14. Auflage dieses wichtigen Festivals. Theaterschaffende aus Deutschland und der ganzen Welt drängen sich in den Räumlichkeiten des Theaters an der Parkaue, des Grips Theaters und der Sophiesæle.

Dem Mobbingopfer wird geholfen

Beglückt verlässt man den Theatersaal, nachdem man „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ und „Nightcalls“ gesehen hat. Walter landet mit einem Raumschiff hinterm Haus von Lisa. Mit altmodischer Eleganz, Witz, Weisheit und übersinnlichen Kräften hilft er seiner kleinen Freundin, sich vom Mobbingopfer zu einer respektierten Person zu entwickeln. Das Theaterstück von Sybille Berg für junge Menschen ab acht kreiert bewusst lustige Situationen, die in der Inszenierung des Thalia Theaters Halle slapstickartig weiterentwickelt werden. Gleichzeitig werden Strategien zur Problemlösung verhandelt.

„Nightcalls“ von James & Priscilla, für Zuschauer ab zwölf, beseelt, weil sich Menschen mit Herd, Schrank und Sessel anreden und auch so aussehen. Und weil diese Zwitterwesen elektronische Musik generieren und Popsongs absondern. Nebenbei versuchen sie zusammen mit Bella und dem Biest herauszufinden, was es bedeutet, ein Paar zu sein. In dieser ergebnislosen Suche nach einer exakten Definition liegt Aufrichtigkeit. Und so zeigen die Inszenierungen des Festivals, dass Theater gemacht für junges Publikum, Theater ist für alle.