Keine Theorie vom großen Trauma

Psychiatrischer Gutachter belastet Mutter der verhungerten Jessica: Sie sei „nicht schwerwiegend gestört“, habe aber die Tochter „als Feind“ gesehen

Dass die Mutter der im März verhungerten siebenjährigen Jessica selbst unter „miserablen Bedingungen“ groß geworden ist, kann einen Teil der Erklärung dafür liefern, warum sie ihre Tochter so quälen konnte. Die Schuld aber nimmt die eigene Lebensgeschichte ihr nicht.

Nach Überzeugung des psychiatrischen Sachverständigen, der gestern vor dem Hamburger Landgericht sein Gutachten über die Persönlichkeit von Marlies Sch. erstattete, haben deren eigene Kindheitserlebnisse „nicht dazu geführt, dass eine schwerwiegend gestörte Persönlichkeit herangewachsen ist: Ich glaube nicht an die Theorie vom großen Trauma.“

Demzufolge wird sich die 36-Jährige voll für den Tod ihrer Tochter verantworten müssen. Dem Vater des Mädchens hingegen hat ein Gutachter eine hirnorganische Störung diagnostiziert, die die strafrechtliche Schuld von ihm nehmen könnte.

Marlies Sch. und Burkhard M. hatten ihre Tochter über Jahre wie eine Gefangene in einem abgedunkelten Zimmer gehalten und hungern lassen. Die bisherige Beweisaufnahme in dem Verfahren hat offenbart, dass Marlies Sch. in ihrer Kindheit selbst schwer vernachlässigt wurde. Sie selbst hatte ausgesagt, ihre Mutter zu „hassen“. Die sei ständig betrunken gewesen und habe immer wieder Männer mit nach Hause gebracht. Später habe sie mit ihrem Onkel zusammengelebt – der Marlies Sch. sexuell missbraucht haben soll.

Eine entfernte Verwandte berichtete gestern, bei einem einwöchigen Aufenthalt in der Familie von Marlies mitbekommen zu haben, dass die damals knapp Sechsjährige permanent im Bett liegen und auch ihr Gesicht mit der Bettdecke zudecken musste. Gekocht, sagte sie, wurde nie. In der Einzimmer-Wohnung, in der die dreiköpfige Familie lebte, gab es nur Zigaretten, Kaffee und Alkohol.

Trotz dieser Geschichte zeigte sich der psychiatrische Gutachter überzeugt, dass Marlies Sch. eine „normale Entwicklung“ genommen habe. Sie sei eine psychologisch unauffällige Frau – nur im Umgang mit ihren Kindern habe sie ein gestörtes Verhalten gezeigt. Das aber sei nicht krankhaft, sondern Ausdruck eines „Kampfgeschehens“: Ihre Kinder seien für sie eine Bedrohung gewesen, Jessica habe sie regelrecht „als Feind“ erlebt.

Der Gutachter erinnerte daran, dass die Erziehung eines kleinen Kindes auch mit großer Anstrengung verbunden ist. Bei manchen Eltern würden die Anforderungen, die Kinder durch ihre eigene Abhängigkeit stellen, aggressive Gefühle hervorrufen.

Als die Beziehung zu Jessicas Vater im Jahr 2002 in eine schwere Krise geriet und Burkhard M. seine Verantwortung für das Mädchen endgültig aufkündigte, habe Marlies Sch. sich innerlich geweigert, diese zu übernehmen. Um sich eigenen Freiraum zu verschaffen, musste das Mädchen immer häufiger alleine in ihrem Zimmer bleiben.

Irgendwann dann war Jessica in so schlechter Verfassung, dass Marlies Sch. „begriffen hat, dass man sie nicht mehr vorzeigen kann“. Ab diesem Moment sei es „jeden Tag aufs Neue eine Entscheidung gewesen: Das Kind oder ich?“

Dem Vater Burkhard M. hat dessen Gutachter eine Störung im Kleinhirn attestiert, die seine „erschreckende Gleichmütigkeit“ erklären könnte. Aber „dass man ein Kind nicht über jahrelanges Einsperren und Hungern- lassen quälen darf“, so der Psychiater, „wird ihm schon bewusst gewesen sein. Elke Spanner