Gedenken

Immer mehr Familien trennen sich, hinzu kommt wachsende ­Altersarmut. Eine Folge ist Einsamkeit im Alter – und im Tod

Uwe und Carmen Wichmann aus Aachen kümmern sich um das Gedenken ihres Freundes Wolli. Der starb – mit 61, ohne Familie

Mitten unter uns

Die Stadt Aachen veranstaltet Trauerfeiern für vereinsamt Verstorbene: ohne Familie, ohne Angehörige, manche auch ohne Freunde – aber mit einem letzten würdevollen Gedenken

Aus Aachen Bernd Müllender
(Text) und Gudrun Petersen (Fotos)

„Wolli lebte immer allein“, sagt Uwe Wichmann in der Trauerhalle. Wolli hatte keine Familie, die Eltern lange tot. „Wir kannten uns an die 40 Jahre. Zu Studentenzeiten haben wir Ende der Siebziger in der katholischen Hochschulgemeinde immer die Partys organisiert. Wolli hat die Platten aufgelegt.“ Jetzt ist Wolfgang Steinbusch mit 61 Jahren gestorben.

„Plötzlich kam dieser Anruf“, sagt Wichmann, der 58-jährige Elektroniker. „Es hat mir die Beine weggehauen.“ Die Hintergründe seien schrecklich und grotesk. Man wisse bis heute nicht, sagt Ehefrau Carmen, „wie es zu Wollis Tod kam“.

Jetzt haben die Wichmanns erst einmal in der Trauerhalle 2 am Friedhof Hüls in Aachen Platz genommen. Rund um das Redepult stehen Fächerpalmen und hohe Kerzenleuchter, dazwischen sind weiße und rote Rosenblätter gestreut, ein großes Fotomotiv zieht die Blicke in die Mitte: eine leuchtende Strandlandschaft mit Meeresblick ins Unendliche. Ein Kinderchor singt glockenhell „And The Glory of The Lord“.

Draußen teilt ein Schild mit: „Beisetzung 18 Uhr TrauerfeierOrdnungsamt.“ Die Stadt Aachen gibt 133 Menschen mit einer öffentlichen Gedenkfeier samt ökumenischem Gottesdienst ein letzter, würdiger Abschied. Es sind die Verstorbenen der vergangenen zwölf Monaten, bei denen keine Angehörige ermittelt werden oder niemand für die Beisetzung aufkommen konnte. Das Ordnungsamt hatte im Laufe des Jahres die Bestattungen organisieren und bezahlen müssen.

Viele bestatten gedenkenlos

Die gut hundert Plätze sind vollbesetzt. Die Trauergäste sind Freunde, Nachbarn, ferne Verwandte, Kneipenbekanntschaften. „Sie haben mitten unter uns gewohnt“, sagt Bürgermeisterin Hilde Scheidt in ihrer Ansprache. „Es ist so wichtig, wenn jemand auf die Welt kommt. Genauso wichtig ist es, wenn er geht.“ Ihre Stadt, betont sie, wolle „zeigen, wie sehr wir auf unsere Menschen achten“, deshalb eine Feier wie diese. „Die Würde ist unantastbar, auch über den Tod hinaus.“ Eric Claptons „Tears in Heaven“ erschallt.

Nicht viele Städte händeln das Sterben der Vereinsamten wie Aachen. Krefeld macht es ähnlich, auch Leipzig, Köln oder Osnabrück. Viele andere Gemeinden bestatten weiterhin gedenkenlos. Wer sein Leben fast anonym beendet hat, geht auch anonym, unbemerkt – und preisbewusst eingeäschert: Loch in die Erde, Urne rein, Grasnarbe drüber, fertig. „Ratzfatz entsorgt“, nennt das der Kölner Bestatter Brian Münchhausen. Solches Verschwindenlassen ohne Namen und Worte war bis vor einigen Jahren auch in Köln Usus. „Gut, dass dieser Nummernbetrieb hier ein Ende hat.“

Heute fragt der katholische Pastor Markus Frohn in seiner Ansprache: „Was war das wohl für den Mensch ohne Verwandte, ohne Freunde?“ Er antwortet sich selbst: „Wir wissen es nicht. Aber ein Urteil steht uns auch nicht zu.“ Pfarrerin Bettina Donath-Kreß gelingt im Anschluss eine unerwartete Volte, passend zum großen Bild hinter ihr: „Wir wollen heute auch derer gedenken, die ihr Grab bei der Flucht über das Mittelmeer gefunden haben.“

In einer Nachbarkommune Aachens, so berichtet es die katholische Pastoralreferentin Gabriela Eichelmann, gebe es „geheime Anonymbestattungen morgens ganz früh vor dem regulären Betrieb. Damit keiner was mitbekommt. Absolut fürchterlich.“ Sie hat zudem die Erfahrung gemacht, dass „die Pflicht zur Bestattung und die Trauer vollkommen zweierlei sind“: Es gibt „normale Selbstzahler, viele Kränze, aber aalglatt. Da bin ich manchmal fast erfroren.“ Und auf der anderen Seite „engagierte Menschen wie die Enkeltochter der Freundin einer mittellos Verstorbenen. Die hat sich rührend gekümmert.“ Eichelmann erzählt von „einer größeren Gruppe aus Stammgästen einer Kneipe. Da hat der Wirt einen Strauß roter Rosen mitgebracht, für jeden eine.“

„Die Fälle nehmen gut zu. In den ­vergangenen vier Jahren, seit wir das so machen, um mehr als 50 Prozent“

Elke Wartmann, Ordnungsamt Aachen

Unter Regenschauern geht es in einer stillen Kerzenprozession zum Feld der Reihengräber; mühsam müssen die kleinen Lichter am Flackern gehalten werden. Die Felder mit den Holzkreuzen in Reih’ und Glied sehen in ihrer Uniformität aus wie Kriegsgräberstätten. Drumherum reichlich geschmückte Familiengräber, Mahnmale, weites Grün, blühende Bäume.

Muße für Uwe Wichmann, von Wolfgang Steinbuschs letzten Wochen zu berichten. „Vor Monaten sagte Wolli am Telefon, er habe was am Rücken und müsse ins Krankenhaus.“ Dramatisch habe das wahrlich nicht geklungen. „Zwei Wochen später kam noch ein Anruf, ihm gehe es nicht gut.“ Vorsorglich wollten ihm die Wichmanns Klamotten ans Krankenhausbett bringen. Im Klinikum hieß es: Intensivstation. „Bitte, was?“ Kein Besuch möglich. Vor allem: Keine Auskünfte an Nichtverwandte – und kein Aber. „Ich musste einfach wieder weg“, sagt Freund Uwe Wichmann. „Wir haben gewartet, gewartet. Ahnungslos,voller Sorgen.“

Etwa 2.500 Euro aufwärts kostet die Stadt eine „Bestattung von Amts wegen“. Bei 133 Verstorbenen macht das an die 350.000 Euro pro Jahr. „Und die Fälle“, sagt Elke Wartmann vom Ordnungsamt, „nehmen gut zu. In den vergangenen vier Jahren, seit wir das so machen, mehr als 50 Prozent“. Die Gründe? „Naheliegend“, meint sie, „immer mehr Familien gehen auseinander, man lebt in der ganzen Welt verstreut, dazu die wachsende Altersarmut. Und insgesamt steigt die Vereinsamung ganz offensichtlich erheblich.“

In Aachen stirbt jeder 18. vereinsamt, in Berlin jeder Neunte

133 im Jahr klingt nicht viel für eine Viertelmillionenstadt wie Aachen, indes betrifft das schon jeden 18. aller pro Jahr Verstorbenen. In Köln ist es schon jeder 12., in Berlin jeder 9. Das sind in der Hauptstadt pro Tag fast 10 vereinsamt Verstorbene. Offenbar nimmt mit der Größe einer Stadt die Anonymisierung auch über das Leben hinaus zu, fast exakt mathematisch berechenbar.

Welche Schicksale verbergen sich hinter den 133 Kreuzen? Angemessen langsam waren die Namen der Verstorbenen vorgelesen worden: „Herr Artur Siegfried Masur … Herr Dr. Ahmed Muddathir… Frau …“ Irgendwann: „…Herr Vladimir Shmidt … Frau Nina Shmidt …“ Offenbar gemeinsamer Suizid. „Vermutlich. Aber ganz Genaues weiß ich auch nicht“, sagt die Frau vom Amt. Und wenn, dürfe sie nichts sagen.

Kleine persönliche Gaben wollen die Eintönigkeit des schlichten Kreuzwaldes aufbrechen. Eine verwelkte Blume hier, ein stilisiertes Plastikengelchen dort, ein selbst gebasteltes Drahtherz, Buddhafiguren, ein Foto in Folie geschweißt, eine herzförmige Tonschale für eine Hundertjährige. Die meisten Gräber aber haben nichts als das hellbraune Kreuz. Erstmals hat die Stadt durch Spenden von Bürgern und vor allem der Steinmetze einen handgroßen Pflasterstein mit eingemeißelten Namen für jeden Toten anfertigen lassen. Noch einmal singt der Kinderchor.

Eine jüngere Frau sagt, sie sei aus Neugier gekommen: „Ich wollte mal sehen, wie die das hier machen. Und es ist sehr gut. Sehr passend.“ Eine Rechtsanwältin erzählt: „Ich habe die auffällige Anzeige mit den 133 Verstorbenen in der Tageszeitung überflogen – und mir sind die Namen von gleich zwei ehemaligen Mandanten in die Augen gesprungen. Das hat mich jäh bewegt.“ Tja, da habe sie sich aufgemacht. „Ich bin froh, dass es das gibt. Das ist sehr würdevoll.“

War es ein Krankenhauskeim?

Uwe Wichmann und sein Freund Paul standen zehn Tage nach dem erfolglosen Besuch in der Intensivstation „gerade zufällig vor unserem Physik-Institut, da kam ein Anruf: Ich sah, wie dem Paul das Gesicht runterfiel und das Handy fast dazu: Wolli sei tot, das habe jemand irgendwo auf Facebook geschrieben.“ Wie, Facebook, was …? Wichmann fuhr auf der Stelle zum Klinikum. „Da hat mir eine Schwester bestätigt, ja, Herr Steinbusch ist heute morgen um 6 gestorben, an einer Sepsis, also Blutvergiftung.“

Wichmanns Ehefrau Carmen sagt, man habe „in den ersten Wochen viel spekuliert, was ist da nur passiert? Wir wissen es bis heute nicht.“ Eine Sepsis habe doch nichts mit Rücken zu tun. Das klinge doch mehr, sagt sie, „nach diesen Krankenhauskeimen“. Die absurde Situation: Hier findet gerade die Trauerfeier für 133 vereinsamte Menschen statt, aber einer von ihnen, um den sich jahrzehntelange Freunde kümmern wollten, durfte in seinen letzten Tagen nicht näher bekümmert werden. So sei die gesetzliche Lage.

Die Wichmanns konnten von der Stadt den Namen des Bestatters erfahren, auch den Beerdigungstermin. Und sie fanden in alten Mails des Verstorbenen eine Liste von Freunden und Bekannten. „Die haben wir alle informiert. Der Rest der Familie hat wohl keine weiteren Fragen gestellt.“ Immerhin haben es die Freunde geschafft, Geld für einen schönen Grabstein zu sammeln, „mit stilisierter Schallplatte unter dem Namen“, sagt Uwe Wichmann. „Musik war ja Wollis großes Hobby. Und diese Holzkreuze sehen ja nach einem Jahr schon schrecklich verwittert aus.“